Winter der Zärtlichkeit
Tod seines Bruders musste noch ganz frisch sein. „Wahrscheinlich hassen Sie Krankenhäuser“, bemerkte sie. „Wegen ... Brody.“
Travis schüttelte den Kopf. Sein Blick war voller Trauer. „Wenn er es doch nur bis hierhin geschafft hätte - bis ins Krankenhaus, meine ich dann hätte es zumindest noch Hoffnung gegeben.“
Ganz instinktiv streckte Sierra die Hand nach ihm aus. Doch bevor sie ihn berührte, klingelte sein Handy.
„Travis Reid.“ Er lauschte. Hob die Augenbrauen. „Hallo, Eve. Ich hätte gedacht, dass nicht mal dein Pilot bei diesem Wetter landen kann.“
Sierra erstarrte.
Nach einer Pause entgegnete Travis: „Das soll Sierra dir erklären.“ Er hielt ihr das Telefon hin.
„Hallo, Eve.“
„Wo bist du?“, fragte ihre Mutter besorgt. „Ich bin auf der Ranch. Es sieht so aus, als ob ihr in der Küche geschlafen hättet ...“
„Wir sind in Flagstaff im Krankenhaus.“ Erst jetzt fiel ihr auf, dass Travis und sie noch die Kleider trugen, in denen sie auch geschlafen hatten. Dass sie sich nicht einmal das Haar gekämmt oder die Zähne geputzt hatte.
Plötzlich fühlte sie sich schrecklich schmutzig.
Am anderen Ende atmete Eve hörbar ein. „Oh mein Gott... Liam?“
„Er hatte einen ziemlich schlimmen Asthmaanfall. Jetzt hängt er an der Beatmungsmaschine und muss bis morgen bleiben, aber es geht ihm gut, Eve.“
„Ich komme so schnell wie möglich. Welches Krankenhaus?“
„Warte", sagte Sierra. „Es ist wirklich nicht nötig, dass du den ganzen Weg hierherfährst, vor allem bei den Straßenverhältnissen. Ich bin ziemlich sicher, dass wir morgen wieder zu Hause sein werden ...“
„Ziemlich sicher?“, hakte Eve nach.
„Seine Medikamente müssen neu eingestellt werden, und die Entzündung der Atemwege muss zurückgehen.“
„Das klingt ernst, Sierra. Ich finde, ich sollte kommen. Ich könnte in ...“
„Bitte“, unterbrach Sierra sie. „Bitte nicht.“
Eine lange Pause folgte. „Na gut“, sagte Eve schließlich und zeigte damit ein Verständnis, das Sierra wirklich zu schätzen wusste. „Dann warte ich hier auf euch. Die Heizung läuft, und ein paar Lichter funktionieren auch. Sag Travis, dass er nicht zurückzukommen braucht - ich werde die Pferde füttern.“ Weil Sierra nur nicken konnte, nahm Travis ihr das Telefon aus der Hand. Offenbar folgte eine ganze Reihe Anweisungen, die Travis sich grinsend anhörte.
„Ja, Ma’am“, sagte er. „Das werde ich.“
Dann hängte er ein.
„Was werden Sie?“, wollte Sierra wissen.
„Auf Sie und Liam aufpassen.“
1919
An diesem Morgen sah die Welt aus, als wäre sie aus einem riesigen Eisblock geschnitzt. Hannah starrte durchs Küchenfenster und bestaunte die Schönheit des Anblicks, obwohl sich jede Faser ihres Körpers nach dem Frühling sehnte. Danach, dass es sich unter der schneebedeckten Erde regte, Wurzeln sich ausbreiteten und sanftes Grün durch die Oberfläche brach.
„Ma?“
Besorgt über den Klang in Tobias’ Stimme drehte sie sich um. Er stand am Fuß der Treppe, noch immer im Nachthemd und barfuß.
„Mir geht’s nicht gut“, murmelte er.
Hannah stellte die Kaffeetasse weg, nahm sich aber noch die Zeit, ihre Hände an der Schürze abzuwischen, bevor sie zu ihrem Sohn lief. Dann legte sie den Handrücken an seine Stirn.
„Du glühst ja“, flüsterte sie entsetzt.
Doss, der bereits die Stallarbeit hinter sich hatte und am Tisch die Zeitung von der letzten Woche las, schob seinen Stuhl zurück.
„Soll ich einen Arzt holen?“, fragte er.
Stumm nickte Hannah. Wenn du nicht darauf bestanden hättest, ihn mit zur Witwe Jessup zu nehmen, dachte sie ...
Aber diesen Gedanken durfte sie nicht weiterverfolgen, denn das war nun wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, um jemandem die Schuld zu geben.
„Geh zurück ins Bett“, sagte sie zu Tobias. Die Lungenentzündung, die ihn im Herbst beinahe das Leben gekostet hatte, hatte genauso angefangen. „Ich mache dir einen Senfwickel, während Doss in die Stadt reitet, um Dr. Willaby zu holen. Und du wirst in Windeseile wieder kerngesund sein.“
Tobias betrachtete sie zweifelnd. Sein Gesicht war gerötet, sein Nachthemd nass vor Schweiß, obwohl es in der Küche eher kühl war. Er wirkte benommen, fast als würde er schlafwandeln, und Hannah fragte sich, ob er überhaupt ein Wort verstanden hatte.
„Ich komme so schnell es geht zurück“, versprach Doss, der bereits seinen Mantel übergeworfen hatte und nach seinem Hut griff.
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