Winter der Zärtlichkeit
„Von Weihnachten ist noch etwas Whiskey übrig. In der Speisekammer hinter der Plätzchendose“, fügte er hinzu, bevor er die Tür aufriss. „Mach ihm ein heißes Getränk mit Whiskey und Honig. Pa hat so was immer für uns gebraut, wenn wir krank waren, und es hat jedes Mal geholfen.“
Doss, Gabe und ihr adoptierter älterer Bruder John Henry waren in ihrer Kindheit niemals ernsthaft krank gewesen, wenn man einmal von John Henrys Taubheit absah. Woher also wollte Doss wissen, was zu tun war?
Trotzdem nickte Hannah mit zusammengepressten Lippen. Sie hatte drei Schwestern verloren, zwei waren an Diphterie gestorben, eine an Scharlach, nur sie und ihr jüngerer Bruder David hatten überlebt.
Sie kannte sich mit Krankenpflege aus.
Einen Moment verharrte Doss zögernd unter der Tür, als ob er noch etwas sagen wollte, aber die passenden Worte nicht fände, dann ging er hinaus.
„Zieh dir ein trockenes Nachthemd an“, befahl Hannah Tobias. Sein Bett war vermutlich auch schweißnass, darum fuhr sie fort: „Und leg dich in unser Bett.“
Unser Bett.
Damit meinte sie ihr und Gabes Bett.
Nachdem sie verheiratet waren, würde Doss ebenfalls in diesem Bett schlafen, auf Gabes Seite.
Doch sie konnte und wollte jetzt nicht darüber nachdenken.
Jetzt nicht. Und vielleicht überhaupt niemals.
Sie war wie diese Farmersfrau, von der sie einmal in der Zeitung gelesen hatte. Die Frau war während eines verheerenden Schneesturms vom Haus in den Stall und wieder zurück gelaufen und hatte sich dabei nur an einem gefrorenen Seil festhalten können. Wenn sie es losgelassen hätte, wäre sie verloren gewesen.
Sie musste sich um Tobias kümmern. Er war ihr Seil, und dem würde sie folgen, einen Griff nach dem anderen, einen Gedanken nach dem anderen.
Hannah zog ein altes Flanellhemd aus dem Lumpenbeutel und schnitt es in zwei gleich große Teile. Sie sollten Tobias’ Haut vor der Hitze des Wickels schützen, auch wenn sich Blasen nicht ganz verhindern lassen würden. Eine spezielle Senfmixtur für solche Fälle bewahrte sie in einem großen, mit Draht versiegelten Marmeladenglas auf.
Einen großen Klumpen davon gab sie nun auf das eine Flanellstück, verteilte es wie Butter und legte den zweiten Stoff darauf. Der scharfe Geruch von Senfkörnern und Kampfer kitzelte in ihrer Nase.
Als sie ins Schlafzimmer trat, lag Tobias in der Mitte ihres Betts. Seine Augen wurden groß, als er sah, was sie in den Händen hielt.
„Nein“, protestierte er schwach. „Kein Senfwickel.“ Er begann zu zittern, seine Zähne klapperten.
„Stell dich nicht an, Tobias. Dein Großvater schwört darauf.“
Tobias stöhnte. „Mein Großvater aus Montana. Grandpa Holt würde nie zulassen, dass mir so was aufgelegt wird!“
„Ist das so?“, fragte Hannah sanft. „Nun, nächstes Mal, wenn du dem allmächtigen Holt McKettrick schreibst, kannst du ihn ja fragen. Ich wette, er wird dir antworten, dass er darauf schwört, wenn er mal gesundheitlich nicht ganz auf der Höhe ist.“
Darauf gab Tobias ein unfreundliches Geräusch von sich, rollte sich aber auf den Rücken, damit Hannah sein Nachthemd aufknöpfen und den Wickel auf seine Brust legen konnte.
„Grandpa Holt“, widersprach er, während er die Tortur tapfer ertrug, „würde mir ein heißes Getränk mit Whiskey geben - so wie früher Pa und Onkel Doss.“
Insgeheim war Hannah der Ansicht, dass die McKettrick-
Männer zwar nicht gerade schwere Trinker, aber doch Rabauken waren, die mit Alkohol so ziemlich jede Krankheit zu heilen versuchten. Ganz egal, ob es sich um einen Schlangenbiss handelte oder um die Grippe. Sie träufelten ihn auf die klaffenden Wunden vom alten Seesaw, wenn er sich mit einem Bären angelegt hatte, und rieben ihn ins Zahnfleisch von zahnenden Babys.
„Was du jetzt bekommst, Tobias McKettrick, ist Haferbrei.“
Angewidert verzog er das Gesicht. „Das brennt“, beschwerte er sich und deutete auf den Wickel.
Hannah küsste ihn auf die Stirn. Er drehte sich nicht weg, wie er es in letzter Zeit öfter getan hatte, was sie zugleich tröstlich und besorgniserregend fand.
Als sie zum Fenster sah, bemerkte sie, dass Eiszapfen an der Dachrinne hingen. Doss würde erst in vielen Stunden - vielleicht sogar erst morgen - mit Dr. Willaby aus Indian Rock zurückkehren. Die Warterei würde sie zermürben, aber sie hatte keine andere Wahl, sie musste sie durchstehen.
Als Tobias die Augen schloss und einschlief, verließ Hannah das Zimmer und lief die Treppe
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