Winter der Zärtlichkeit
„Vielleicht habe ich vergessen, wie man träumt.“
„Und das macht Ihnen keine Sorgen?“
„Bis jetzt war es nicht wichtig.“
„Wie schade. Liam wird nämlich Ihr Muster übernehmen. Ist es das, was Sie für ihn wollen? Irgendwie zu überleben?“ „Spricht durch Sie vielleicht die Inkarnation irgendeines verstorbenen Lebensberaters?“
Travis lachte leise. „Ganz sicher nicht.“
„Dann geben Sie hier einfach die Cowboyversion von Dr. Phil?“
„Na gut. Ich höre auf. Zunächst zumindest.“
„Was sind denn Ihre Träume, Sie Staranwalt?“, konterte Sierra, zu gereizt, um das Thema fallen zu lassen. „Sie haben studiert, verdienen Ihr Geld aber mit Stallausmisten.“
Todernst sah Travis zu ihr, und als sie den Schmerz in seinen Augen sah, schämte sie sich ihrer Worte.
„Damit musste ich wohl rechnen“, sagte er leise. „Und hier ist meine Antwort: Ich würde gern wieder in der Lage sein zu träumen. Das ist mein Traum.“
„Tut mir leid“, murmelte Sierra. Der Mann hatte seinen Bruder auf sehr tragische Weise verloren. Vermutlich versuchte er sein Bestes, wie fast alle anderen auch. „Ich wollte nicht unfreundlich sein. Ich war nur ein bisschen ...“
„Getroffen?“
„Das ist ein guter Ausdruck dafür.“
„Sie müssen sehr verletzt worden sein“, meinte Travis. „Und nicht nur von Eve.“ Er sah zu Liam. „Vielleicht vom Vater dieses kleinen Kerls?“
„Vielleicht“, nickte Sierra.
Danach brach das Gespräch zwar ab, doch Sierras Gedanken überschlugen sich.
Als sie die Ranch erreichten, war das Haus hell erleuchtet, obwohl es noch früh am Nachmittag war. Bunte Lichter schimmerten im Wohnzimmerfenster, und Sierra kniff die Augen zusammen, weil sie glaubte zu träumen.
Travis Blick folgte dem ihren. „Oh, oh“, lächelte er. „Sieht aus, als ob sich Weihnachten eingeschlichen hätte, während wir weg waren.“
Bei dem magischen Wort öffnete Liam die Augen. „Weihnachten?“
Trotz des schweren Klumpens, der ihr im Magen lag, musste Sierra lächeln. Was hatte Eve vor?
Sie hielt die Luft an, als die Küchentür aufflog. Da stand Eve McKettrick oben auf der Treppe, eine große schlanke
Frau, atemberaubend attraktiv und mit einer eleganten Hose und einer blauen Seidenbluse bekleidet.
„Ist das meine Grandma?“, fragte Liam verblüfft. „Sie sieht wie ein Filmstar aus!“
Das tat sie allerdings, sie sah aus wie Maureen O’Hara. Und plötzlich begriff Sierra, dass sie diese Frau schon früher gesehen hatte, in San Miguel, nicht nur einmal, sondern mehrere Male. Sie war früher regelmäßig in einem der besseren Hotels abgestiegen und hatte Sierra öfter in einem Café zum Eis eingeladen.
Einen Moment vergaß Sierra zu atmen.
Die Lady. Als Kind hatte sie Eve immer „die Lady“ genannt und insgeheim geglaubt, dass sie ein Engel war. Es lag allerdings Jahre zurück, dass sie zum letzten Mal an sie gedacht hatte.
Jetzt wurde sie von Erinnerungen überflutet.
Travis stellte den Motor ab und öffnete die Tür. „Sierra?“, fragte er, als sie sich nicht rührte.
„Hallo!“, brüllte Liam. „Mein Name ist Liam, und ich bin sieben!“
Seine Großmutter lächelte, ihre lebhaften grünen Augen glänzten. „Mein Name ist Eve“, entgegnete sie ruhig, „und ich bin dreiundfünfzig. Komm her und gib mir einen Kuss.“
Endlich löste Sierra sich aus ihrer Erstarrung, stieg aus dem Truck und stellte die Füße fest auf den harten Schnee. Liam fegte so schnell an ihr vorbei, dass er einen kleinen Windzug auslöste.
Um ihren Enkel fest in die Arme zu nehmen, beugte Eve sich vor. Sie küsste ihn auf den Kopf und sah dann wieder Sierra an.
„Ich seh mal nach den Pferden“, verkündete Travis.
„Gehen Sie nicht“, platzte es aus Sierra heraus.
Währenddessen schob Eve Liam in die Küche und beobachtete, wie Travis um den Wagen ging und sich neben Sierra stellte.
„Sie kommen schon klar“, sagte er.
Sie biss sich auf die Unterlippe, so töricht kam sie sich vor. Und doch hätte sie sich am liebsten an ihm festgekrallt wie eine irre besessene Freundin.
Einen Moment starrten sie sich nur an. Er war entschlossen, sie war verängstigt. Und noch etwas geschah, etwas, das viel schwerer zu definieren war.
Schließlich brach Travis den Bann, indem er sich wegdrehte und Richtung Stall schlenderte.
Und Sierra atmete einmal tief durch, dann steuerte sie auf die offene Küchentür und die Frau zu, die sie auf der Schwelle erwartete.
„Im Wohnzimmer steht eine
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