Winter der Zärtlichkeit
Aufmerksamkeit wieder auf ihren Sohn, der sie prüfend musterte und offenbar etwas Wichtiges zu sagen hatte. „Ja, Liebling?“
„Ist Onkel Doss jetzt mein Pa, wo ihr beide verheiratet seid?“
„Ich habe es dir doch schon erklärt, Tobias. Doss ist noch immer dein Onkel. Dein Vater wird immer - dein Vater bleiben.“ Tobias runzelte die Stirn. „Aber Pa ist tot.“
Sie seufzte. „Ja.“
„Onkel Doss lebt.“
„Das kann man wohl sagen.“
„Ich will einen Pa. Jemand, der mit mir fischen geht und mir das Schießen beibringt.“
„Das alles kann Doss tun.“
Zwar wollte sie nicht, dass Tobias sich auch nur auf eine Meile einem Gewehr näherte, aber momentan hatte sie nicht die Kraft, eine solche Diskussion durchzustehen.
„Das ist nicht dasselbe“, sagte Tobias nüchtern.
„Tobias, es gibt Dinge im Leben, die man einfach akzeptieren muss. Dein Vater ist tot. Doss ist dein Onkel, nicht dein Pa. Du musst einfach das Beste daraus machen.“
„Das Beste wäre, wenn er mein Pa und nicht mein Onkel wäre.“
„Tobias!“
„Du hast mal gesagt, dass Onkel Doss mein Stiefvater sein wird, wenn ihr heiratet. Jetzt bist du seine Frau. Wenn man das ,Stief‘ weglässt, ist er mein Pa.“ Tobias strahlte. Mit seinen acht Jahren konnte er wie ein Politiker auf einer Wahlveranstaltun g argumentieren.
Die Tür öffnete sich, und Doss trat ein, gefolgt von zwei Zimmermädchen.
„Pa ist zurück“, rief Tobias.
Hannahs und Doss’ Blicke trafen sich. Sie sah zuerst weg.
11. KAPITEL
Heute
„ D u brauchst Zeit, um das alles zu verarbeiten“, sagte Eve am nächsten Morgen nach dem Frühstück. Eve hatte für alle Waffeln gebacken. Jetzt war Liam oben, um sich für seinen ersten Besuch in der Indian Rock Grundschule anzuziehen. Sierra wollte ihn anmelden, war sich aber nicht sicher, ob er schon für einen ganzen Schultag bereit war. Und Travis machte seit ihrer Rückkehr aus Flagstaff einen weiten Bogen um das Ranchhaus. „Darum werde ich wieder abreisen.“ Eves Stimme klang entschlossen.
Diese Ankündigung nahm Sierra, die eine schlaflose Nacht hinter sich hatte, mit gemischten Gefühlen auf. Auf der einen Seite gab es so vieles, was sie über ihre Mutter wissen wollte. Dinge, die nichts mit ihrer langen Trennung zu tun hatten. Welche Bücher las sie? Wohin war sie gereist? Hatte sie vor oder nach Hank Braslin jemanden geliebt? Was brachte sie zum Lachen? Weinte sie bei traurigen Filmen, oder war sie eine knallharte Realistin, die zu dem Satz neigte: „Aber das ist doch nur ein Film“ ?
Gleichzeitig sehnte Sierra sich danach, allein zu sein, um in Ruhe nachdenken und die neuen Erkenntnisse einordnen zu können. Am liebsten hätte sie sich irgendwo in eine Ecke gekauert, die Arme um die Knie geschlungen, und überlegt, was sie glauben sollte und was nicht.
„Gut“, nickte sie.
„Ich möchte dir nur noch etwas zeigen, bevor ich gehe.“ Damit stand Eve vom Küchentisch auf, ging zum Geschirrschrank, öffnete eine der Schubladen und zog etwas Großes, Quadratisches heraus, eingewickelt in weichen blauen Flanellstoff. Sie legte es vor Sierra auf den Tisch.
Unwillkürlich begann Sierras Herz wild zu klopfen, und als Eve nickte, schlug sie den Stoff zurück und entdeckte ein altes Fotoalbum.
„Das ist deine Familie, Sierra. Deine Ahnen. Es gibt Tagebücher und weitere Fotografien auf dem Dachboden, die alle mal sortiert werden müssten. Du würdest mir einen großen Gefallen tun, wenn du das übernimmst.“
„Das kann ich tun.“ Sierras Hand zitterte ein wenig in einer Mischung aus Neugier und Verzagtheit. Biologisch war sie mit den Gesichtern und Namen in diesem abgewetzten Lederalbum zwar verwandt, doch in Wahrheit war sie nur auf der Durchreise. Das durfte sie nicht vergessen.
Eve legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Tut mir leid wegen des Weihnachtsbaums“, entschuldigte sie sich mit einem kleinen Lächeln. „Ich habe ihn aufgestellt, und ich sollte auch diejenige sein, die ihn wieder abbaut. Aber das Flugzeug kommt in einer Stunde. Die Schachteln für den Schmuck sind im Keller unter der Treppe.“
Sierra nickte zum zweiten Mal. Längst hatte Liam auch den Rest seiner Geschenke geöffnet. Den Baum wegzustellen, würde ein genauso bittersüßes Abenteuer werden, wie die Fotos und Aufzeichnungen zu ordnen. Sie hatte sich den Schmuck zwar nicht genau angesehen, vermutete aber, dass es sich um Erbstücke handelte wie so vieles in diesem Haus, und dass jedes einzelne eine
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