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Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Titel: Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
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fleißige Katechetin, von Jesus vorlas. Derlei Treffen blieben in der Hausgemeinschaft nicht unbemerkt, schon weil es in den unwegsamen Neubaugebieten üblich war, die Schuhe auszuziehen, bevor man eine Wohnung betrat. Während der Christenlehre standen manchmal zwanzig bis dreißig Schuhe vor der Tür, doch es gab niemals Probleme, private Räumlichkeiten für diese Zusammenkünfte zu finden.
    Der Vorteil der Hauskreise bestand darin, dass sie sehr enge Beziehungen zwischen den Mitgliedern schufen. Unter ihnen bildete sich das besondere Wir-Gefühl heraus, das heute so viele in den postkommunistischen Ländern schmerzlich vermissen.

    Der Nachteil der Hauskreise war ihre Abgeschlossenheit, die Begrenzung des Handlungsspielraums der Teilnehmer untereinander und ihrer Wirksamkeit nach außen. Wir haben daher als weitere Arbeitsform die Freizeiten entwickelt, die nicht so heißen durften, da die Gestaltung der Freizeit allein Aufgabe von staatlichen Institutionen sein durfte Die Kirche als religiöse Gemeinschaft sollte sich auf religiöse Tätigkeiten, das heißt möglichst auf den Kult beschränken. Wir durften beispielsweise nicht mit Jugendlichen zelten. Wollten wir es dennoch, mussten wir in die Nachbarländer ausweichen, erst nach Polen, dann, als Polen uns wegen Solidarność verschlossen war, in die Tschechoslowakei. Freizeiten hießen deshalb »Rüstzeiten«, auch »Bibelrüstzeiten«. Erfolgreich haben wir uns geweigert, sie anzumelden oder gar genehmigen zu lassen, wie es die SED Anfang der siebziger Jahre durchzusetzen versuchte.
    Gegen Treffen unter der Bezeichnung »Rüstzeit« war weniger einzuwenden, da der religiöse Charakter schon aus der Bezeichnung hervorging. Aber wir ließen uns Themen nicht vorschreiben und nicht auf religiöse Fragen begrenzen. Wir sprachen über Literatur, Angst, Mut, Feigheit, Anpassung, Freiheit, Gehorsam, Ungehorsam, über Liebe, Formen der Sexualität, voreheliche Geschlechtsbeziehungen und natürlich auch über Politik, etwa die unterschiedlichen Systeme, über Krieg und Frieden, Toleranz.
    Immer mehr nahm sich die Kirche der Themen an, die von staatlicher Seite ausgeklammert oder sogar tabuisiert wurden. Wir setzten uns kritisch auseinander mit der Militarisierung im Schulbereich, der Atomenergie, insbesondere nach dem Desaster von Tschernobyl, mit den zahlreichen Ökologieproblemen, mit den Menschen-und Bürgerrechten und mit der Friedensfrage. Wir forschten nach jüdischen Gräbern und hielten am 9. November, dem Jahrestag der »Reichskristallnacht«, auf einem Rostocker Friedhof ein Gedenken ab, das von der Stasi observiert wurde, da keine staatliche Instanz Derartiges angeordnet hatte. Wir pflanzten Bäume, um ein ökologisches Bewusstsein zu fördern, wir propagierten »Mobil ohne Auto«, wobei etwa hundert Jugendliche, unterstützt
von einigen Eltern, aufs Fahrrad stiegen und einen Fahrradkorso bildeten.
    Wer die kirchliche Arbeit in der DDR vor allem danach beurteilt, wie weit sie sich als Opposition verstand, hat den eigentlichen Auftrag von Kirche jedoch nicht erfasst. Die Kirche war keine Partei mit einem politischen Gegenprogramm, auch keine Untergrundorganisation, die das Regime zu unterminieren trachtete. Im Zentrum ihres Denkens und Tuns stand auch in der DDR Gott, stand Jesus Christus. Es ging darum, den Menschen das Wort Gottes nahezubringen und sie für den christlichen Glauben zu gewinnen. Kirche war allerdings insofern oppositionell, als sie die einzige eigenständige und unabhängige, dem Zugriff von Staat und Partei entzogene Institution war, der einzige Ort, wo ein offenes Gespräch möglich war, wo Themen und Meinungen weder tabuisiert noch zensiert wurden und eine Erziehung zum unabhängigen Denken und Handeln erfolgte.
    Die Kirche machte die Menschen freier und für das System nicht oder weniger verführbar. Sie war auch insofern oppositionell, als sie auf Werten bestand, die andere waren als die des Staates, und sie rückte Themen in den Fokus, die vom Staat anders besetzt wurden. Insofern gab es Gemeinsamkeiten von Christen und Nicht-Christen, Menschen außerhalb der Kirche, was besonders deutlich wurde, wenn in Rostocker Kirchen Schriftsteller und Liedermacher wie Stefan Heym, Bettina Wegner, Freya Klier, Stefan Krawczyk oder Barbara Thalheim auftraten. Konzerte und Lesungen im kirchlichen Rahmen erreichten auch politisch Andersdenkende, Künstler, Homosexuelle und sogar Menschen, die sich sonst nirgends engagierten, aber unter den

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