Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
Verhältnissen und der geistigen Enge litten. Mochten sie auch noch so verschieden sein, sie alle einte der Wunsch, das aussprechen und hören zu können, was andernorts verboten war. Sie alle suchten den Zauber des Besonderen, der entstand, wenn wir uns zu dem bekennen, wonach unsere Seele hungert.
Eigentlich hatte ich in Evershagen auf ein eigenes Gotteshaus gehofft. Doch wie sollte sich diese Hoffnung erfüllen, wenn die
Kirche nicht einmal eine Wohnung, ein Pfarrhaus, eine Garage bauen durfte? Es war der ungeheure Devisenmangel der DDR, der schließlich unerwartet Möglichkeiten eröffnete. Die Kirchen der Bundesrepublik, die ihre Partnerkirchen im Osten ohnehin unterstützten, waren bereit, Kirchen, Gemeindehäuser und diakonische Einrichtungen im Osten zu finanzieren. Als Westgeld winkte, willigten die DDR-Oberen ein - zunächst in die Restaurierung von Altkirchen wie den Berliner Dom, der kriegsbeschädigt und nur notdürftig repariert inmitten der Hauptstadt gegenüber dem modern-prunkenden »Palast der Republik« stand. Nach zähen Verhandlungen wurden auch einige wenige neue Gotteshäuser in den Plattenbausiedlungen genehmigt, wo inzwischen Hunderttausende wohnten.
Da die Evangelische Kirche jedoch nicht als mittelloser, armer Bruder dastehen wollte und bei den Verhandlungen mit dem Staat darauf bestand, die Hälfte der Baukosten in Mark der DDR selbst aufzubringen, erhielt in Rostock-Evershagen die katholische Kirche den Zuschlag - sie zahlte alles in Westmark.
Das evangelische Gemeindezentrum wurde in einem anderen Stadtteil errichtet, aber wir konnten 1985 von der fünf Kilometer entfernten Sankt-Andreas-Kirche in unseren Stadtteil umziehen, da wir Gastrecht in der neuen katholischen Thomas-Morus-Gemeinde erhielten. Aus Rücksicht auf unsere katholischen Gastgeber musste der sonntägliche Gottesdienst schon um 8.30 Uhr beginnen, aber selbst zu so früher Stunde war der Gottesdienstbesuch ansehnlich.
Die Gemeinde, die bei meiner Ankunft gar nicht existiert hatte, zählte da bereits rund 4500 Gemeindemitglieder. Teilweise hatte ich sie durch Hausbesuche gefunden, teilweise meldeten sie sich selbst bei ihrem Einzug in das Neubaugebiet, oder sie wurden uns vom Kirchensteueramt mitgeteilt. Neben Neugeborenen hatte ich eine ganze Reihe von Jugendlichen und jungen Erwachsenen getauft. Besonders eindringlich ist mir und der ganzen Gemeinde ein junger Mann in Erinnerung, der in der Uniform der Volksmarine an das Taufbecken trat, sich anschließend die Kir-chenzeitung
in die Kaserne nach Stralsund bestellte und allwöchentlich Ausgang zum sonntäglichen Gottesdienst beantragte.
Unser Pastor hat Geburtstag! Die Junge Gemeinde gratuliert auf dem Trabant des Pastors mit einem »Happy Birthday«, vermutlich aus Mehlpampe. In den zwei Taschen vor dem Auto Talar, Kreuz und Leuchter - sie überraschten mich, als ich von einem Gottesdienst im Pflegeheim zurückkehrte.
Im Lauf der Jahre hatten sich aus den Jugendgruppen auch einige gemeldet, die Theologie studieren wollten. Beim Erntedankfest waren wir Gott daher nicht nur allgemein dankbar für Gaben, die Natur und eigene Arbeit in unsere Hände gelegt hatten - auch in unserer Gemeinde war »die Ernte groß« gewesen. Die Kirchenleitung genehmigte schließlich eine zweite Pfarrstelle.
Unsere letzte Evershagener Wohnung übernahm Pastor Lohmann mit seiner Familie. Wir zogen in die Altstadt um, in ein altes Haus bei der Nikolaikirche, dessen Garten an die Stadtmauer grenzte - für meine Frau eine reine Freude. Sie hatte sich nie mit
dem Leben in der Neubausiedlung angefreundet, und ich konnte nun dank der Unterstützung durch einen zweiten Kollegen meine Aufgaben als Mitglied des Präsidiums des Evangelischen Kirchentags besser erfüllen.
Die Kirchentage waren die größten Veranstaltungen unserer Landeskirchen. Die Staatsführung versuchte alles, ihnen Schranken zu setzen, etwa indem sie die Nutzung bestimmter Räumlichkeiten nicht genehmigte oder gegenüber Themen, Gästen und Organisatoren Bedenken anmeldete. Ein zentraler Kirchentag für die gesamte DDR durfte gar nicht stattfinden.
Im Rahmen des Lutherjahres 1983 eröffneten sich den DDR-Kirchen erstmals Möglichkeiten, an die bis dahin kaum zu denken gewesen war. Die Kirche war Nutznießer der Umwertung Martin Luthers im offiziellen Geschichtsbild. Der in den fünfziger und sechziger Jahren noch als »Bauernverräter« und »Fürstenknecht« beschimpfte Reformator galt inzwischen als einer »der größten
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