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Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Titel: Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
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Söhne des deutschen Volkes«. Preußen-Renaissance und Luther-Ehrung sollten das außenpolitische Prestige der DDR erhöhen. In Rostock flatterten große Kirchentagsfahnen am Hafen und vor der Kongresshalle, ein ungewöhnlicher Anblick, der uns mit Freude und Genugtuung erfüllte.
    3500 Dauergäste hatten sich zum Rostocker Kirchentag 1983 für Arbeitsgruppen und Großveranstaltungen unter der Losung »Vertrauen wagen« angemeldet; teilgenommen haben schließlich gut 30 000 Menschen. Vor allem die Besucher aus dem Ausland wurden gefeiert: ein südamerikanischer Geistlicher vom Ökumenischen Rat in Genf, ein Bischof aus Paris, ökumenische Gäste aus Schweden, der Schweiz, Österreich, der UdSSR, der Tschechoslowakei, aus Polen und der Bundesrepublik. Den stärksten Begeisterungssturm löste ein Amerikaner aus, der am »Abend der Begegnung« in der Kongresshalle »We shall overcome« anstimmte. Den Abschlussgottesdienst unter freiem Himmel auf einem Parkplatz am Hafen erlebten wir als großes Fest: Fast 25 000 Christen bekannten sich zu ihrem Herrn, sie sangen und beteten das Vaterunser auf einem öffentlichen Platz in einem atheistischen Staat,
»unter freiem Himmel, ohne Mauern, die abgrenzen und einengen«, wie unser Landesbischof Rathke sagte.
    Es war etwas in Bewegung geraten in der Gesellschaft der DDR, und beim nächsten Rostocker Kirchentag fünf Jahre später gärte es bereits heftig. Er stand unter der Losung »Brücken bauen«. Es war die Zeit der Perestroika, Michail Gorbatschow hatte nicht nur die zentrale Verwaltung der Wirtschaft gelockert, er hatte auch Glasnost verkündet, eine größere Offenheit in der Gesellschaft. Mit unserer Losung suchten wir den Dialog, in erster Linie den Dialog von Christen und Marxisten, ähnlich jenem, den SED und SPD miteinander geführt und dessen Resultate sie im Sommer 1987 in dem so genannten Dialogpapier veröffentlicht hatten. Helmut Schmidt hat dieses Papier in seinen Erinnerungen als »moralisch und politisch« abwegig bezeichnet, Sozialdemokraten alter antikommunistischer Prägung und Christdemokraten kritisierten zu Recht seine Phrasen, seine politischen Illusionen und den peinlichen Schulterschluss, doch uns versetzten Dokumente wie dieses in die Lage, Druck auf die Partei auszuüben, indem wir sie an ihren eigenen Worten maßen.
    Wir forderten einen Dialog ohne Beschränkung. Wir wollten die SED zwingen, sich zu unseren friedenspolitischen und zu unseren Umwelt-, Friedens-und Menschenrechtsthemen zu äußern. Natürlich erwarteten wir nicht, dass sie sich überzeugen lassen würden, aber dann sollten sie sich doch wenigstens demaskieren. Doch es kam zu keinem Dialog. Die SED-Oberen wähnten sich wie eh und je im Besitz der Wahrheit. Sie wollten Gefolgschaft, keine Partnerschaft. Statt eines Regierungsvertreters schickten sie uns drei Professoren von den Lehrstühlen für Marxismus-Leninismus, die sich mit religiösen Fragen beschäftigten. Zum Dialog war die SED-Führung erst bereit, als sie ihrem Untergang entgegenging. Aber da war es zu spät.
    Ein eindringliches Erlebnis war für mich im Rahmen des Dialogs zwischen Christen und Juden die erste Begegnung mit einem überlebenden Juden aus Rostock. Dem Kaufmannssohn Albrecht Jacques Zuckermann war es noch kurz vor Ausbruch des
Zweiten Weltkriegs im Alter von fünfzehn Jahren gelungen, mit der Jugendalija nach Palästina zu emigrieren. 1984 kehrte er als Yaakov Zur zum ersten Mal nach Rostock zurück, nach der Wende sollte er der erste Rostocker Ehrenbürger werden und maßgeblichen Anteil an der Errichtung der Begegnungsstätte für jüdische Geschichte und Kultur in Rostock haben. Ich bin mit ihm später noch einmal in Israel zusammengetroffen.
    Beim Ost-Berliner Kirchentag im Juni 1987 hatten oppositionelle Gruppen einen »Kirchentag von unten« veranstaltet und bei der Abschlussfeier mit Transparenten und Aktionen auf sich aufmerksam gemacht. In Mecklenburg wollten wir eine ähnliche innerkirchliche Spaltung auf jeden Fall verhindern und entschieden uns, weder Themen noch Teilnehmer auszuschließen. Wir hätten es als taktische Niederlage empfunden, wenn wir, die Minderheit, uns noch einmal gespalten hätten. Und so wurden selbst Ausreiser und Oppositionelle, die radikaler auftraten, in den Kirchentag integriert. »Kirche von unten«, haben wir gesagt, »das sind wir alle.« Die Bischöfe und Kirchenleute der mecklenburgischen Landeskirche hatten unser Vertrauen. Im Unterschied zu Berlin-Brandenburg und

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