Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
Kollegen aus dem Westen allerdings auch groteske Züge an. Ich erinnere mich an eine große Pastorenkonferenz, bei der bayerische und mecklenburgische Pastoren in einer kirchlichen Einrichtung in Berlin-Weißensee zusammmentrafen. Als wir wieder einmal offen ausbreiteten, was uns bedrückte und dabei teilweise offen systemkritisch
auftraten, platzte einigen kirchlichen Mitarbeitern aus dem Westen der Kragen: »Wie könnt ihr den Sozialismus in Bausch und Bogen verurteilen, wo ganz Afrika darin seine Hoffnung sieht?!« Und als wir über Honecker und unsere Gerontokratie klagten, empörte sich ein bayerischer Pastor: »Warum regt ihr euch über Honecker so auf? Wir haben Franz Josef Strauß, einen korrupten Politiker!« Gemessen an diesem konservativen, präpotenten Politiker erschien ihm der biedere, hagere Honecker harmlos.
In solchen Momenten spürten wir die tiefe Entfremdung zwischen uns. Wie konnte man einen demokratisch gewählten Regierungschef stärker ablehnen als einen Diktator, der sich nie von den Seinen hätte wählen lassen? Da konnten wir nur den Augenkontakt mit den Unsrigen suchen und verächtlich die Mundwinkel nach unten ziehen. Doch obwohl wir sahen, dass manche Besucher aus dem Westen das Wesen der kommunistischen Diktatur nicht erkannten, blieben wir anfällig für die linken Ideen, die sie transportierten. Wie wir strebten sie nach mehr Gerechtigkeit. Sie empörten sich vor allem über das inhumane kapitalistische System, und wir sahen: Nicht nur bei uns gibt es Grund zur Kritik. So wurden wir nebenbei auch ein wenig antikapitalistisch. Dadurch entstand das Paradox, dass breite Kreise in der evangelischen Kirche-Ost nicht durch den real existierenden Sozialismus links wurden, sondern durch die westdeutschen Einflüsse. Mit unserem Sozialismus wurden wir nicht versöhnt, mit der Idee schon eher.
Ich habe die sozialistische Herrschaft, wie ich sie erlebte, immer abgelehnt. Trotzdem sagte ich mir auch: Wenn jene, die im Kapitalismus leben und wissen, wovon sie reden, antikapitalistisch sind, dann hat der Kapitalismus vielleicht wirklich keine Zukunft. Und wenn ein neuer, zukünftiger, besserer Sozialismus die Menschen-und Bürgerrechte gewähren würde - warum sollte ich dann gegen den Sozialismus sein? Ich erlag wie viele der intellektuellen Verführung einer radikalen Kritik an dem durchgehend als inhuman dargestellten kapitalistischen Gesellschaftssystem einerseits
und dem Glauben an eine positive Zukunftsvision andererseits. Der reale Sozialismus war dann eben noch nicht das gelobte Land, sondern nur ein erster Schritt auf dem Weg zur vollendeten Gesellschaft. Da trafen sich Christen mit Intellektuellen in oder im Umkreis der Partei, die wie Christa Wolf oder Stefan Heym unzufrieden waren mit dem System, es aber doch für die bessere Alternative hielten. Später würde ich diese Haltung eine »Flucht in den Überbau« nennen und im idealistischen, mehr noch im romantischen Denken Vorläufer sehen.
Aber damals ließ für mich und zahlreiche Intellektuelle die Sogkraft des Westens nach. Wir quälten uns nicht mehr ständig mit den Fragen: Wann kommen wir endlich in den Westen? Oder: Wann haben wir endlich westliche Verhältnisse? In den siebziger, achtziger Jahren haben gerade die Aktiven gedacht: Wir wollen bei uns mindestens solche sozialen Verhältnisse wie im Westen. Wir wollen in unserem Land mindestens so frei sein und so viele Rechte haben wie die Menschen im Westen. Insofern verstand ich mich als links, obwohl ich stärker antikommunistisch und weniger antikapitalistisch war.
Dass manche Christen der marxistisch-sozialistischen Vision etwas abgewinnen konnten, lag sicher auch an dem schönen Zukunftsideal, das Züge eines Glaubens trug. Der Glaube an den Gott der Väter war für viele schon vor dem Zweiten Weltkrieg verloren gegangen; da erlagen selbst Intellektuelle wie Manès Sperber oder Arthur Koestler dem neuen Gott, der »Offenbarung aus dem Osten«. Ein edler Sozialismus erschien ihnen allemal die bessere Gesellschaftsordnung gegenüber dem »verfaulenden Kapitalismus«. Die Bibel fordert das Solidarische und das Miteinander, der Kapitalismus hingegen den Egoismus und die Gier. Deshalb hat das Evangelium eine größere Nähe zum ethisch verstandenen Sozialismus. So weit gingen selbst die Formulierungen in den Synoden unserer Kirchen.
Es kann nicht verwundern, wenn die Grenze zwischen DDRKRITISCHEN und »fortschrittlichen«, DDR-loyalen Theologen gelegentlich verwischt zu
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