Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
hingerichtet worden war. So wie Christus ein »Mensch für andere« war, ist Kirche nach Auffassung Bonhoeffers nur dann Kirche, wenn sie sich nicht darauf beschränkt, für ihre Selbsterhaltung zu kämpfen, sondern sich für Ausgestoßene, Geächtete,Verfolgte öffnet, auch für Nicht-Christen einsetzt und sich über die Seelsorge hinaus in gesellschaftichen und politischen Problembereichen engagiert.
Heinrich Rathke präzisierte in seinem Referat auf der Synode von Eisenach 1971 dieses Leitbild. Kirche dürfe sich nicht als »Kirche gegen andere« verstehen - damit verstoße sie gegen christliche Normen. Sie dürfe sich nicht als »Kirche ohne andere« verstehen - das wäre eine Kirche als Selbstzweck, die sich auf die Verteidigung ihrer Eigeninteressen beschränke. Schließlich dürfe sie sich auch nicht als »Kirche wie andere« verstehen - das wäre
eine opportunistische Anpassung an die herrschenden Umstände. Die letzte Formulierung war allerdings umstritten und fand keinen Eingang in die griffige Formulierung der Bundessynode von 1973 in Schwerin, die lautete: »Wir wollen Kirche nicht neben, nicht gegen, sondern Kirche im Sozialismus sein.«
Aber was sollte »Kirche im Sozialismus« bedeuten? Eine sozialistische Kirche, was ein Widerspruch in sich gewesen wäre? Oder eine Kirche, die notgedrungen die sozialistischen Verhältnisse akzeptierte? Oder eine Kirche, die sich loyal zum sozialistischen Staat, sprich dem Programm der SED, verhielt? Oder aber eine Kirche, deren ethische Vision auf ein freies, gleichberechtigtes Zusammenleben der Menschen unter besonderer Berücksichtigung der Benachteiligten zielte? Eine Diskussion darüber wurde weder bei der Entstehung der Formel geführt noch in der ganzen Zeit, in der sie unterschiedlich von den Landeskirchen ausgelegt wurde.
Heinrich Rathke hat in seiner Zeit als Landesbischof von 1971 bis 1984 die Formel von der Kirche im Sozialismus nicht verwandt und die Mehrheit unserer Geistlichen in der Mecklenburgischen Landeskirche wohl auch nicht. Sie war uns zu unpräzise; zu viel Unterschiedliches konnte sich dahinter verbergen. Viele in meinem Umfeld hielten es wie ich. Wenn, dann wollten wir die Formel allein als Ortsbestimmung verstehen: Wir sind Kirche in der DDR, einem unreformierbaren sozialistischen Staat. Der Erfurter Propst Heino Falcke hingegen, selbst unverdächtig, ein Parteigänger des Systems zu sein, interpretierte auf der Synode 1972 Sozialismus nicht als die Realität in der DDR, sondern als Vision, als »verbesserlichen Sozialismus« - was den Zorn der SED hervorrief, denn der real existierende Sozialismus wollte, wenn überhaupt, nicht von einem politischen Gegner für verbesserungswürdig erklärt werden. Falcke selbst verlor in den achtziger Jahren seine Überzeugung, dass es sich um ein »verbesserliches« System handele, aber immer noch fanden sich Menschen in der Kirche, die den ideellen Sozialismus gegen den realen Sozialismus zu retten versuchten.
Für mich war an Rathkes Ansatz die nicht nur geduldete, sondern gewünschte und propagierte Öffnung der Kirche am bedeutendsten: Es sind nicht alle wie wir, aber wir haben das Recht, so zu sprechen, dass die, die nicht so sind wie wir, uns verstehen. Wir müssen nicht im rituellen Gefängnis unserer Liturgie und der dogmatischen Traditionen verharren, sondern sollten unsere Botschaft der Nächstenliebe in Worte kleiden, die jeden erreichen können. Dazu gehört auch im Sinne Bonhoeffers eine nicht-religiöse Rede von Gott, um in einer zunehmend säkularisierten Welt die großen Themen des Glaubens zur Sprache zu bringen oder der glaubenslosen Welt den Glauben plausibel zu machen. Mit Staatsnähe hatte dieser Ansatz nichts zu tun, er war nah an den Gefühlen der Gemeindemitglieder, insbesondere der jungen Leute, die fast durchgängig oppositionell waren.
Die allermeisten Gemeindemitglieder, Pastoren und kirchenleitenden Personen verstanden sich in Mecklenburg als »Kirche von unten«, als Lobby für jene, die keine Lobby hatten. Glücklicherweise ist uns dadurch jene Auseinandersetzung erspart geblieben, die in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre in Berlin und anderen Städten geführt wurde und starke Spannungen zwischen Basisgruppen und Kirchenleitungen nach sich zog. Wenn Kirchenleitungen stark auf gute Beziehungen zum Staat achteten - häufig durch kirchenleitende IM in diese Richtung getrieben -, sahen sie ihre Räumlichkeiten missbraucht von Personen oder Gruppen, die mit den
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