Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)
ob er morgen vorbeikommen und sich den Fotoapparat mal ansehen konnte.
»Ruthie?«, sagte Fawn. Sie hatte die Nase ans Wohnzimmerfenster gepresst.
»Hm?«
»Da draußen ist jemand. Er will zu uns.«
Ruthie
»Er kommt näher.« Fawn schaute immer noch aus dem Fenster. Ihre Stimme war seltsam ruhig und beiläufig, als bekämen sie andauernd Besuch.
Ruthie wusste, dass es unsinnig war, trotzdem hoffte sie, es wäre ihre Mutter. Sie stellte sich vor, wie sie durch die Tür kommen, den Schnee abschütteln und die Mädchen in die Arme nehmen würde. »Ihr habt euch doch nicht etwa Sorgen um mich gemacht?« Fast konnte Ruthie die Umarmung ihrer Mutter spüren und die nasse Wolle ihres Schals riechen.
Ruthie zog Fawn an sich und spähte, durch die Spiegelung ihrer aneinandergekauerten Gestalten hindurch, nach draußen.
Es war dunkel geworden, doch der Mond tauchte Einfahrt und Hof in gespenstisches blaues Licht. Eine Gestalt stapfte, einen langen Schatten hinter sich herziehend, über den verschneiten Hof. Sie trug eine Wollmütze und einen dicken Parka und ging leicht nach vorn gebeugt, entweder wegen der Kälte oder weil es ihr Mühe machte, im hohen Schnee vorwärtszukommen. Sie hatte sich einen Schal um Mund und Nase gewickelt, wodurch sie gesichtslos wirkte; vollständig vermummt wie der Unsichtbare . Konnte es ihre Mutter sein? Nein. Die Mütze, die Jacke und der Schal kamen Ruthie kein bisschen bekannt vor, außerdem war sie sicher, dass sie den Gang ihrer Mutter erkannt hätte. Diese Person machte kleine, fast zaghafte Schritte, ihre Mutter hingegen erledigte alles, selbst das Gehen, mit einer geschäftigen Entschlossenheit, die Ruthie auf eine Meile Entfernung wiedererkannt hätte.
»Wer ist das?«, wollte Fawn wissen.
Ruthie schüttelte den Kopf, um zu signalisieren, dass sie es nicht wusste.
»Und wo ist er hergekommen?«, wunderte sich ihre kleine Schwester.
Weit und breit war kein Auto zu sehen. Und die Gestalt war auch nicht die Einfahrt entlanggekommen, sondern über die Hofseite. Die Spur aus Fußstapfen, die sie hinterlassen hatte, schien in den Wald zu führen.
»Ich hab keine Ahnung«, murmelte Ruthie und überlegte fieberhaft, was sie jetzt tun sollten.
Fawn sah blinzelnd zu ihrer Schwester auf und wartete darauf, dass diese ihr sagte, wie es weitergehen sollte. Ruthie spürte den überwältigenden Drang, ihre Schwester zu beschützen. Das Gefühl traf sie unvermittelt wie ein Schlag gegen das Brustbein: Pass auf Fawn auf. Lass diesen Fremden nicht in ihre Nähe kommen.
Inzwischen war der Fremde an der Haustür angelangt und klopfte. Es war ein lautes, nachdrückliches Klopfen. Ich gehe hier nicht weg , bedeutete es.
»Soll ich aufmachen?«, fragte Fawn. Sie stand der Tür am nächsten.
»Nein.« Ruthie biss sich auf die Lippe. Denk nach. Was sollte sie jetzt machen? Ihre Eltern hatten ihnen eingeschärft, niemals einem Fremden die Tür zu öffnen. Aber ihre Eltern waren nicht da – ihr Vater war tot und Mom spurlos verschwunden. Was, wenn dieser Fremde Informationen hatte? Hinweise zum Aufenthaltsort ihrer Mutter?
Aber warum war er aus dem Wald gekommen?
»Sollen wir ihn einfach ignorieren?«, fragte Fawn und duckte sich unter das Fenster, so wie ihre Eltern es ihnen beigebracht hatten. Reagiert gar nicht. Bleibt in Deckung, damit man euch nicht sehen kann. Irgendwann wird er schon wieder verschwinden.
Wieso hatten ihre Eltern ihnen befohlen, sich zu verstecken?
»Wenn ihr jemanden aus dem Wald kommen seht, den ihr nicht kennt, geht ins Haus, verriegelt die Tür und versteckt euch«, hatte ihre Mutter sie wieder und wieder ermahnt. Sie hatten es sogar geübt, so wie manche Familien für einen Hausbrand übten.
Öffnet niemals die Tür. Auch nicht, wenn die Person ganz freundlich und harmlos aussieht. Haltet die Tür verschlossen und lasst euch nicht blicken.
Es war, als hätte ihre Mutter die ganze Zeit damit gerechnet, dass irgendwann einmal jemand kommen würde; jemand, der böse und gefährlich war.
Doch bislang hatte die Wahrheit anders ausgesehen: In den letzten Jahren hatten sie kaum Besucher gehabt – nur hin und wieder mal hatten sich Mormonen oder Zeugen Jehovas zu ihnen verirrt, Leute von der Volkszählung oder ein Mann, der Angaben für das Büro des örtlichen Steuer-Einschätzers überprüfen wollte.
Ruthie sah auf die Uhr. Es war kurz vor sieben an einem Samstagabend. Um diese Uhrzeit war niemand aus beruflichen Gründen unterwegs – nicht bei dem Wetter und
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