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Wintergeister

Wintergeister

Titel: Wintergeister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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verspürte doch ein gelindes Interesse. Zumindest genügte es, um meine Reise in diese Richtung fortzusetzen.
    Ich folgte dem Verlauf des Flusses durch eine überwältigende archaische Landschaft. Die meiste Zeit war ich allein auf der Straße unterwegs. Ich sah einen hölzernen Ochsenkarren, dann rumpelte ein alter Armeelastwagen vorbei. Der Motor keuchte, die grüne Plane war zerfetzt und dreckbespritzt, und ein Scheinwerfer fehlte. Ein altes Schlachtross, das noch nicht sein Gnadenbrot bekam.
    Das Thermometer fiel, aber es war kein Schnee zu sehen, nur die Reifdecke, die auf den Ebenen lag, wurde dicker, je höher ich kam. Ich malte mir aus, dass es hier im Spätsommer gelbe Sonnenblumenfelder gab und Olivenbäume mit ihren silbergrünen Blättern und schwarzen Früchten. Auf den Terrassen der wenigen Häuser, die verstreut an den steilen Berghängen lagen, stellte ich mir Blumentöpfe in erdigen Farben mit weißen und rosa Geranien von der Größe einer Männerhand vor und Weinstöcke mit roten und grünen Trauben, die in der Mittagssonne reiften. Zweimal hielt ich an und stieg aus, um mir die Beine zu vertreten und eine Zigarette zu rauchen, ehe ich weiterfuhr.
    Die üppige Winterschönheit der Flusstäler in der Ariège, durch die ich am Vortag gekommen war, machte hier einer eher prähistorischen Landschaft mit Höhlen und schroffen Klippen Platz. Felsen und Wald reichten direkt bis an die Straße heran, als wollten sie zurückerobern, was der Mensch ihnen genommen hatte. Die Wolken schienen zwischen den Bergen zu schweben wie Rauch von herbstlichen Lagerfeuern, so niedrig, dass es mir vorkam, als könnte ich die Hand ausstrecken und sie berühren. Jeder Gipfel hatte eine Kalksteinkuppe, die den Blick auf sich zog. Doch statt der romantischen, zerfallenden Châteaus oder Überreste längst verlassener militärischer Stützpunkte, die ich in Limoux und Couiza gesehen hatte, waren hier zerklüftete Risse in den Bergwänden. Nicht der Nachhall menschlicher Besiedelung, sondern etwas Urwüchsigeres.
    Mein Kopf war voller Erinnerungen an den Klassenraum meiner ersten Schuljahre. Kreidestaub und das gelbe Licht eines Oktobernachmittags, die Stimme des Lehrers, der die blutige Geschichte dieses Grenzlandes zwischen Frankreich und Spanien erzählt. Von dem Krieg, den die katholische Kirche im dreizehnten Jahrhundert gegen die Albigenser führte. Einem Bürgerkrieg, einem Zermürbungskrieg, der über hundert Jahre währte. Von Verbrennungen und Folter und systematischer Verfolgung, den Anfängen der Inquisition. Und für uns zehn- und elfjährige Jungen, die den Tod noch nicht kannten, die noch nicht begriffen, was Krieg bedeutet, klang das alles nach Abenteuer. Die sonnenhellen Tage der Kindheit, ungebrochen, unverdorben.
    Später dann, ein wenig älter, erzählte die Stimme desselben Lehrers von den Glaubenskriegen des sechzehnten Jahrhunderts zwischen Katholiken und Hugenotten. Ein grünes Land, so nannte er das Languedoc. Ein grünes Land, getränkt mit dem roten Blut der Gläubigen.
    Auch in unserer Zeit. Selbst wenn dieser Winkel Frankreichs weniger gelitten hatte als das Pas de Calais, als all die zerstörten Dörfer und Wälder im Nordosten, erzählten die Kriegerdenkmäler an jeder Kreuzung, die Friedhöfe und Gedenktafeln doch dieselbe Geschichte. Überall Zeugnisse von Menschen, die viel zu früh gestorben waren.
    Ich hielt an und stellte den Motor ab. Meine zarte Hochstimmung zerbrach mit einem Schlag und wurde von den altvertrauten Symptomen verdrängt. Feuchte Hände, trockene Kehle, das bekannte schmerzliche Stechen im Magen. Ich nahm die Mütze ab, zog die Lederhandschuhe aus, fuhr mir durchs Haar und vergrub das Gesicht in den Händen. Sie waren klebrig, rochen nach Haaröl und nach Scham, weil die Trauer noch immer ein so leichtes Spiel hatte, weil ich nach all den Gesprächstherapien, den Behandlungen und der ganzen mir entgegengebrachten Freundlichkeit, nach allem Knien auf harten Holzbänken bei der Abendandacht noch immer ein gesprungenes Herz in mir trug, das einfach nicht heilen wollte.
    In diesem Moment bemerkte ich zum ersten Mal eine Störung in der Luft. Eine Art Unruhe. Ich blickte abrupt hoch und spähte durch die verschmierte Windschutzscheibe, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken. Die Straße war menschenleer. Schon seit einer ganzen Weile war niemand in die eine oder andere Richtung vorbeigekommen. Und doch war da eine Art Bewegung zu spüren, eine Veränderung des Lichts auf

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