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Wintergeister

Wintergeister

Titel: Wintergeister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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kreiselnden Winden, bedeckten das Wagendach und dämpften die Geräusche im Innern.
    Dann vernahm ich etwas, das sich anhörte wie Donnergrollen zwischen den Bergen. War das denkbar, Donner und Schnee zugleich? War es überhaupt möglich? Während ich noch darüber nachdachte, dröhnte ein zweites Grollen durchs Tal und machte die Frage hinfällig.
    Ich rollte weiter, im Schneckentempo. Die Straße schien sich zu verengen. Auf der einen Seite die hohe graue Wand des Berges, auf der anderen ein schroffer Abgrund, in dem sich die bewaldete Bergflanke verlor. Ein erneuter Donnerschlag und ein krachender Blitz, der die Bäume schwarz vor dem aufgeladenen Himmel abzeichnete.
    Ich schaltete die Scheinwerfer ein, spürte, wie die Reifen nur mühsam auf der steilen, rutschigen Straße Widerstand fanden, während der Wagen weiter gegen den böigen Gegenwind ankämpfte. Und die ganze Zeit das Quietschen der Scheibenwischer, die sich hin und her quälten, hin und her.
    Die Windschutzscheibe war beschlagen. Der Geruch nach nasser Wolle und Leder, nach Benzin und nach der feuchten Matte unter meinen Füßen kitzelte meine Nase. Ich beugte mich vor und wischte zum wiederholten Male mit dem Ärmel über die Innenseite der Scheibe. Es nützte nichts.
    Mir war klar, dass ich Schutz suchen musste, aber nirgendwo waren Häuser zu sehen oder auch nur die Spur einer menschlichen Behausung, nicht mal eine einsame Schäferhütte. Bloß die endlose kalte und stumme Weite.
    Eine andere Kindheitserinnerung kam mir in den Sinn. Das alte Kinderzimmer unterm Dach, das Nachtlicht erloschen. Ich weinend im Dunkeln, von einem bösen Traum aufgeschreckt und nach einer Mutter rufend, die nie kam. Dann George, wie er am Fußende meines Bettes saß, die Vorhänge öffnete, um das Silberlicht des Monds hereinzulassen, und sagte, ich brauchte vor nichts Angst zu haben. Nichts und niemand könne mir etwas anhaben. Wir seien die Watson-Jungs, unbesiegbar und mutig. Nichts könne uns bezwingen, solange wir nur zusammenhielten. Und mit George an meiner Seite glaubte ich das.
    Wie alt mochte er gewesen sein? Elf, zwölf? Und wie kam es, dass er es verstand, einen einsamen Jungen zu trösten, der sich vor der Dunkelheit fürchtete – ohne zu viel oder zu wenig Mitgefühl zu zeigen. Und wieso wusste er, dass er den Vorfall nie mehr erwähnen durfte?
    »Die Watson-Jungs«, murmelte ich.
    So sprach ich mit mir selbst, um mir Mut zu machen. Ich sei in keiner wirklichen körperlichen Gefahr, sagte ich mir. Wichtig sei nur, nicht die Nerven zu verlieren. Die Gefahr, dass der Wagen von einem Blitz getroffen wurde, war gering. Zu viele Bäume ringsumher. Das Unwetter klang schlimmer, als es war, und was den Donner betraf? Bloß die Folge einer ungewöhnlichen Wetterlage. Nichts, wovor man sich fürchten musste. Krach konnte einem nichts tun, Krach konnte nicht töten. Nicht wie Kugeln das taten, nicht wie Chlorgas, nicht wie Bomben oder Bajonette. George hatte gewusst, was ihn in jedem Moment jedes Tages treffen konnte. Das hier war nichts gegen das, was er, was sie alle hatten verkraften müssen.
    So beschwor ich mich selbst, doch die Vergleiche hallten mir hohl durch den Kopf. Mut hatte George letztlich nicht gerettet, hatte keinen von ihnen gerettet. Wenn das Wetter sich noch weiter verschlechterte, würde die Straße bald unpassierbar sein. Die Gefahr war real, nicht bloß ein Schatten im Dunkeln. Schon jetzt bildete sich Eis auf der Straße. Ich könnte sehr leicht die Kontrolle über den Wagen verlieren und in den Abgrund stürzen.
    Und wenn ich nicht verunglückte, könnte mir die Kälte zum Verhängnis werden. Kälte konnte die stärksten Männer besiegen. Franklin in der Arktis, Wilson und Bowers in der Antarktis, Mallory und Irvine auf dem Everest. Wie Scott, der Held meiner Kindheit, würde ich in einer starren, schonungslosen Welt untergehen. Aber anders als bei Scott, der elf Tagesmärsche vom Basislager entfernt gewesen war, würde nach mir niemand suchen. Niemand wusste, wo ich war.
    Während ich über meine Lage nachsann, wurde mir deren grausame Ironie bewusst. Da sah ich mich unversehens dem Vergessen gegenüber, mit dem ich noch am Vorabend bei der Tour du Castella geliebäugelt hatte. Doch jetzt, keine vierundzwanzig Stunden später, schaltete sich das Schicksal ein, um mir Hilfestellung zu geben, und plötzlich wollte ich nicht mehr sterben.
    »Ich will nicht sterben.«
    Das sagte ich zu meiner eigenen Überraschung laut und erkannte verwundert,

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