Wintergeister
zerschlug oder andere skandalöse Dinge tat? Ich kann mich nicht entsinnen. Da sind nur der tröstliche Nebel des Morphiums und der Schnee, der auf London fiel, und die holprige Autofahrt, als man mich vom Piccadilly in eine Privatklinik bei Midhurst brachte.
Im Sanatorium vergingen Weihnachten und Neujahr 1923 ohne mich. Erst als der Frühling kam und die Misteldrossel vor meinem Fenster ihren flötenden Gesang anstimmte, wurde die Welt zögernd wieder klarer. Eine Stunde am Tag im Hof auf und ab gehen, begleitet von zwei Schwestern in steifer Tracht, später nur von einer. Dann Spaziergänge, die etwas länger währten und allein unternommen wurden, bis die Ärzte mich Ende April für hinreichend gekräftigt hielten, um in die Obhut meiner Familie entlassen zu werden.
Ich wurde nach Hause geschickt. Vater schämte sich für meine Schwäche und war selten da. Mutter interessierte sich jetzt, da ich krank war, nicht mehr für mich als vor meinem Zusammenbruch. Inzwischen verstehe ich, woher ihre Abneigung rührte. Ich empfinde ein gewisses Mitleid für sie. Nachdem sie meinem Vater bereits einen Sohn geschenkt hatte, musste sie das Ganze fünf Jahre später noch einmal durchstehen, wo sie doch gedacht hatte, mit dergleichen nichts mehr am Hut zu haben. Damals, als ich heranwuchs, ging ich einfach davon aus, dass ich nicht liebenswert war, und versuchte, mich deswegen nicht zu sehr zu grämen.
Dennoch, im Verlauf des Sommers und Herbstes jenes Jahres erholte ich mich langsam. Aber jede noch so kleine Verbesserung meines Zustandes entfernte mich weiter von George, und in Wahrheit war seine Gesellschaft die einzige, nach der mich verlangte. Ich empfand es als Verrat, dass ich lernte, ohne ihn zu leben.
Das Leben ging wieder seinen gewohnten Gang. Der Schatten, den der Krieg geworfen hatte, wurde schwächer. All die Monate und Jahre, die fast unterschiedslos vorbeiglitten. Und noch immer Verzweiflung bei jedem Tagesanbruch. Jeder Morgen, wenn das Licht der sinnlosen Welt wieder Form verlieh, war eine schmerzliche Erinnerung daran, wie viel ich verloren hatte.
Aber im Grand Hôtel de la Poste in Tarascon gegen Ende des Jahres 1928 erwachte ich um zehn Uhr vormittags, nachdem ich das frühmorgendliche Grauen glatt verschlafen hatte, ohne eine drückende Last auf der Brust. Ich bewegte die Finger, dehnte die Schultern und Arme und fühlte sie als zu mir gehörig, nicht als etwas Losgelöstes. Nicht als etwas Totes.
Wieder besteht die Möglichkeit, dass erst im Nachhinein meine allmählich auftauenden Gefühle offensichtlich werden. Oder die Erkenntnis, dass sich in mir eine bedeutsame Veränderung vollzogen hatte, nachdem ich am Vorabend von dem Abgrund zurückgetreten war. Aber ich meine mich zu erinnern, dass ich mit einem gewissen Schwung aus dem Bett aufstand. Ich hörte draußen auf der Straße eine Frau singen. Ein Volkslied oder irgendeine Weise aus den Bergen, die mich in ihrer Schlichtheit anrührte. Ich stieß die Fensterläden weit auf, spürte die beißende Kälte an den Armen und fühlte mich, wenn auch nicht direkt glücklich, so doch wenigstens nicht unglücklich.
Lächelte ich zu der Frau hinunter? Oder schaute sie, da sie meinen Blick spürte, zu mir herauf? Ich erinnere mich nicht, ich weiß nur, dass die altertümliche Melodie noch lange, nachdem die Frau aufgehört hatte zu singen, schwer in der Luft hing.
Im Speisesaal war ich der einzige Gast. Eine reizlose Frau servierte mir warme Brötchen und Schinken mit frischer Butter und einer groben Pflaumenkonfitüre, die irgendwie süß und sauer zugleich war. Außerdem gab es Kaffee, aus echten Bohnen, nicht den aus mit Gerste und Malz vermahlener Zichorie. Ich hatte guten Appetit und aß mit Genuss, nicht bloß um Körper und Seele zusammenzuhalten. Ich rauchte in aller Ruhe meine Pfeife, füllte die
salle à manger
mit Rauchwölkchen, die im Dezemberlicht tanzten, und war versucht, eine weitere Nacht zu bleiben. Letztlich jedoch verlangte eine gewisse Rastlosigkeit in mir, dass ich weiterzog.
Es war kurz nach elf, als ich endlich meine Rechnung beglichen, den Austin aus der Garage geholt und Tarascon hinter mir gelassen hatte. Ich fuhr gen Süden, Richtung Vicdessos. Ich hatte kein besonderes Ziel im Sinn und wollte mich überraschen lassen, wohin der Weg mich führen würde. Mein Baedeker empfahl Orte mit großartigen Höhlen bei Niaux und Lombrives. Es war höchst unwahrscheinlich, dass sie im Dezember für Besucher geöffnet waren, aber ich
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