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Wintergeister

Wintergeister

Titel: Wintergeister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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dem Bergkamm hoch oben. Die Gipfel ragten bedrohlicher über mir auf, und die Bergflanke schien näher gerückt, uralte immergrüne Wälder und kahl starrende Äste winterlicher Bäume. Welche Geheimnisse bargen sie in ihrem Schatten?
    Mein Herz setzte einen Schlag aus. Ich kurbelte die Scheibe herunter. Die Stille umbrandete mich. Wieder nichts. Keine verräterischen Schritte oder Stimmen oder rumpelnde Räder in der Ferne. Erst später, als alles vorbei war, fiel mir auf, dass diese Stille eigenartig war. Ich hätte etwas hören
müssen
. Das Brausen der Schmelzöfen hinten in Tarascon oder die zischenden Schornsteine der Fabrik in meinem Rücken. Den Klang von Metall auf Metall oder das Singen der Eisenbahngleise, die sich durch das Haute Vallée heraufschlängelten. Das Rauschen des Flusses. Doch ich nahm nur Stille wahr. Eine Stille, als wäre ich der einzige Überlebende auf dieser Erde.
    Und dann hörte ich es. Nein, hören ist das falsche Wort. Ich
spürte
es. Ein Raunen, fast wie Gesang.
    »Die anderen sind in die Dunkelheit entschwunden.«
    Mir stockte der Atem. »Wer ist da?«
    Ich hatte oft den Geist von Georges Stimme im Kopf gehört, obwohl sie mit den Jahren schwächer geworden war. Doch das hier war anders. Ein hellerer Klang, sanft und köstlich, getragen von der kalten Luft. Ein Nachhall, ein Echo von Worten, die einst an diesem Ort gesprochen wurden? Kam es von der jungen Frau, die ich vor dem Hotel in Tarascon hatte singen hören und deren klagende Weise irgendwie bis hoch hinauf in die Berge geweht war? Oder war das zu abstrus? Natürlich war hier niemand, keine Menschenseele. Wie auch?
    Ich bemerkte, dass meine Hände fest um das Lenkrad gekrallt waren. Die Temperatur war gefallen, und von Süden her trieben Wolken heran, die offenbar Schnee trugen. Auch im Wagen war es bitterkalt. Ich kurbelte die Scheibe hoch, beugte und streckte die Finger, bis sie mir wieder gehorchten, und stopfte meinen Schal fest in den Halsausschnitt des Pullovers.
    Um mich von meinen beunruhigenden Gedanken abzulenken, beschäftigte ich mich mit praktischen Dingen. Ich beugte mich zur Seite und studierte den Straßenatlas, um meine genaue Position zu bestimmen. Ich fuhr noch immer in Richtung Vicdessos, das rund fünfzehn Meilen von Tarascon entfernt lag. Ich war von der Hauptstraße abgebogen, um über Nebenstraßen landeinwärts nach Ax-les-Thermes zu fahren. Zwei gute Bekannte von mir waren in dem Urlaubsort, um dort eine Woche Ski zu laufen, und sie hatten mich eingeladen, Weihnachten mit ihnen zu verbringen. Ich hatte die Einladung weder angenommen noch abgelehnt, doch jetzt gefiel mir die Vorstellung, unter Freunden zu sein. Mittlerweile war ich seit Wochen allein unterwegs, und die Gesellschaft würde mir guttun.
    Ich spähte nach draußen. Falls die Karte stimmte, hatte ich die Abzweigung nach Ax-les-Thermes verpasst. Und falls das Wetter umschlug, wäre es Wahnsinn, noch weiter hinauf in die Berge zu fahren. Die Sonne war jetzt gänzlich hinter Wolken verschwunden, und der Himmel hatte die Farbe von schmutzigem Leinen angenommen. Ich sollte wirklich zurück auf die Hauptstraße fahren.
    Ich fuhr mit dem Finger über die Karte. Falls meine Berechnung stimmte, konnte ich noch ein oder zwei Meilen auf dieser Route bleiben, vorbei an den Dörfern Aliat, Lapège und Capoulet-et-Junac, und würde dann auf der anderen Seite dieses niedrigen Bergzugs wieder auf die Straße nach Vicdessos gelangen.
    Ich ließ den Straßenatlas aufgeschlagen auf dem Beifahrersitz liegen, streifte die Handschuhe über und betätigte den elektrischen Anlasser. Die kleine Limousine erwachte stotternd wieder zum Leben, und ich fuhr weiter.

Der Sturm bricht los
    I ch war höchstens eine Meile gefahren, als ein Graupelschauer gegen die Windschutzscheibe prasselte. Ich schaltete die Wischer ein, doch sie verteilten bloß eisige Schlieren auf der Scheibe. Ich kurbelte das Seitenfenster runter, griff um den Holm herum und versuchte, den schlimmsten Schmutz mit meinem Taschentuch zu entfernen.
    Eine heftige Windböe traf den Austin von vorn. Ich schaltete vom dritten in den zweiten Gang, war mir allerdings durchaus bewusst, dass die Reifen nicht greifen würden, wenn der Graupel sich in Eis verwandelte. Eine einzelne Schneeflocke, so groß wie eine Sixpence-Münze, fiel auf die Haube, dann noch eine und noch eine. Binnen Sekunden, so schien es zumindest, befand ich mich mitten in einem Schneesturm. Die Flocken wirbelten und tanzten in den

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