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Wintergeister

Wintergeister

Titel: Wintergeister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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dass es die Wahrheit war. Dann zuckte ein weiterer Blitz vor mir auf und beleuchtete einen hölzernen Wegweiser am Straßenrand.
    Idiotischerweise zog ich die Handbremse. Die Vorderräder blockierten. Als der Wagen auszubrechen drohte, steuerte ich gegen, aber zu jäh. Ich spürte die Räder unter mir wegrutschen. Ich schlingerte zur Seite, glitt auf die senkrechte Schlucht zu. Näher, immer näher kam der Abgrund. Dann ertönte ein lautes Krachen. Ich riss wieder am Steuer, lenkte in die entgegengesetzte Richtung, und der Austin drehte sich um einhundertachtzig Grad. Ich weiß noch, dass ich mich in diesem Sekundenbruchteil fragte, wie es wohl enden würde.
    Irgendetwas an der Unterseite des Wagens bohrte sich wie ein Anker in die rauhe Oberfläche der Straße. Es bremste mich ab, aber nicht genug, der Vorwärtsschwung war zu stark. Noch immer schlitterte ich auf die Schlucht zu.
    Das war das Ende.
    Ich schlug die Hände vors Gesicht. Spürte den Motor aussetzen, dann einen Aufschlag, und Glassplitter regneten mir auf den Schoß. Alles verlangsamte sich, Bewegung, Schwung, Klang. Bruchstücke aus meinem Leben schossen mir durch den Kopf, ja. Zerrissene Bilder meiner Eltern, Schnappschüsse der Frauen, die ich zu lieben versucht hatte. Die Art, wie das Novemberlicht auf die Gedenktafel für die Gefallenen des Royal Sussex Regiment in einer Kapelle der Kathedrale von Chichester fiel. Erinnerungen an George.
    Und ich fragte mich, ob er den Tod wie einen Schatten gesehen hatte, der auf ihn zukam. Hatte er in dem Moment gewusst, was geschah? Im Rückblick wundere ich mich darüber, wie sanft und ruhig mir diese Gedanken in den Sinn kamen. Keine Panik mehr, keine Furcht, nur Frieden. Ich spürte das Licht trüber werden und eine flaumige Weichheit, wie schwarze Federn, und ich hoffte, dass George im Augenblick seines Endes auch diese dunkle Wonne empfunden hatte. Kein Entsetzen und vor allem keinen Schmerz. Sondern das Gefühl, zu Hause empfangen zu werden.
    Dann kam die Gegenwart mit einem Schlag zurück, heftig und grell und brutal. Der Austin prallte gegen einen der Findlinge, die am Straßenrand aufgestellt worden waren, um Reisende vor dem Abgrund zu warnen, erwischte ihn frontal und mit solcher Wucht, dass sich die Kühlerhaube nach oben wölbte. Ein krampfartiger Schmerz schoss in mir hoch, als mein Kopf zuerst nach hinten wippte, dann nach vorne gerissen wurde und auf das Armaturenbrett schlug.
    Danach, nichts.

Die Wächterin in den Bergen
    F lüstern. Ich hörte Flüstern, Stimmen, die zwischen den Bergen schwebten.
    »Ich bin die Letzte, die Letzte, die …«
    Über das Heulen des Windes hinweg, manchmal weit entfernt, manchmal näher, so nah, dass ich meinte, Atemhauch auf meiner Wange zu spüren.
    »Die anderen sind in die Dunkelheit entschwunden.«
    »Hier«, versuchte ich zu sagen, doch kein Laut kam heraus.
    Dann ein Schluchzen, ein verzweifeltes Schaben von Stein auf Stein und schauerliches Weinen.
Piano, pianissimo, moriendo
, wie die letzten Klänge einer Kirchenglocke auf dem Lande, die zur Abendandacht ruft.
    »Hierher«, murmelte ich. »Bitte. Helft mir!«
    Ich weiß nicht, wie lange ich in diesem Zustand war, weder richtig wach noch völlig besinnungslos. Es war ein Gefühl, als triebe ich im Freibad unter Wasser, gemächlich schwimmend, gemächlich durch das tiefgrüne Wasser nach oben steigend, näher und näher an die Oberfläche und das Licht. Sehen, tasten, hören. Die Spitzen meiner Finger, das Grellweiß hinter meinen Augen, meine Zehen in den Stiefeln.
    Dann musste ich würgen, husten. Kein Ertrinken. Erwachen. Ich kam wieder zu mir. Ich konnte das Pumpen und Zischen meines Herzens unter den Rippen spüren, schnarrend wie ein Trommelwirbel. Ich schluckte schwer. Als ich eine Hand hob, um mir den Schnee von der Wange zu wischen, sah ich, dass die Fingerspitzen meines Handschuhs rot waren. Und als ich nach unten blickte, waren Schnee und Glassplitter in meinem Schoß mit Blut vermischt, glitzernd und matt zugleich.
    Ich sank mit den Schultern nach hinten gegen die Lehne. Schon durch diese kleine Bewegung neigte sich der Wagen ein wenig, und ich wusste, dass ich raus musste. Im Augenblick hing er fest, aber es war fraglich, wie lange noch. Später erfuhr ich, dass der Stoßdämpfer gebrochen war und das scharfkantige Metall sich in den Steinen unter dem Schnee verhakt hatte.
    Ich hatte das Gefühl, als würden die Minuten auf irgendeinen Nullpunkt runtergezählt. Ich warf einen Blick auf die

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