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Wintergeister

Wintergeister

Titel: Wintergeister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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Uhr am Armaturenbrett. Als ich das letzte Mal daraufgeblickt hatte, war es kurz vor zwei gewesen. Jetzt war das Uhrenglas geborsten, und die Zeiger hingen nutzlos herab auf halb sechs.
    Mir dröhnte der Schädel. Ich stützte mich ab, streckte den Arm aus und zog den Türgriff. Sogleich fegte der böige Wind durch den Spalt und riss die Tür fast aus den Angeln, wodurch der ganze Wagen ins Schaukeln geriet. Ich schwang ein Bein heraus, dann das zweite, registrierte eine vage Erleichterung, dass ich überhaupt dazu in der Lage war. Ich stemmte mich hoch, in eine stehende Position, wobei die Splitter der Windschutzscheibe von meinem Schoß regneten, und taumelte vom Wagen weg. Der Wind ohrfeigte mich so hart, dass ich Mühe hatte, das Gleichgewicht zu halten, aber schließlich gelang es mir, die Tür zu schließen.
    Die Schultern zum Schutz gegen die bittere Kälte hochgezogen, strich ich mit der Hand über die Karosserie und versuchte, das Ausmaß des Schadens einzuschätzen. Ich hatte den Austin früher im Jahr von dem bescheidenen Erlös gekauft, der mir nach Abzug der Erbschaftssteuer vom Verkauf des väterlichen Anwesens geblieben war. Der Wert des Wagens war eher sentimentaler als finanzieller Natur. Er war die letzte Verbindung zwischen meinem Vater und mir.
    Gut war, dass ich keine ernsthaften Verletzungen davongetragen hatte. Und dass der Wagen nicht abgestürzt war. Schlecht war, dass ich ihn unmöglich ohne Hilfe wieder in Gang bringen konnte. Überall lagen Trümmer herum. Unter meinen Stiefelsohlen knirschten Glassplitter. Die Motorhaube hatte sich nach oben gewölbt, und der Kühler war in sich zusammengepresst wie ein eingedrückter Brustkorb. Einer der beiden Scheinwerfer war glatt abgebrochen, und der andere baumelte lose herab, verbeult und nur noch durch ein paar dünne Drähte mit dem Wagen verbunden.
    Ich kniete mich in den Schnee. Metall und Stücke von Gestänge hingen unter dem Chassis. Die Antriebswelle hatte sich gelöst, und das Trittbrett stand schräg ab wie ein eingerissener Fingernagel.
    Eine solche Kälte hatte ich noch nie erlebt. Es schneite nicht mehr, aber jetzt breitete sich ein von Minute zu Minute dichter werdender Nebel aus, der sich um mich schlang, mir in Nase, Mund und Kehle drang. Er dämpfte alle Geräusche und verfremdete die Landschaft, verlieh allem etwas Düsteres. Missgestaltete Bäume und Felsen verwandelten sich in phantastische Bestien.
    Ich zog die Mütze so tief es ging herunter. Trotzdem blieben meine Ohrläppchen ungeschützt. Die Tweedhose war unterhalb des Mantelsaums bereits feucht und klebte mir an den Waden. Frisches Blut tropfte mir die Wange herab. Ich holte ein Taschentuch hervor und drückte es auf den Schnitt, ein roter Strahlenkranz auf der hellblauen Baumwolle. Es tat nicht weh, aber ich wusste von George, dass Wunden nur selten sofort schmerzen. Schock war das Narkosemittel der Natur, hatte er mir erklärt. Der Schmerz setzte erst später ein.
    Mir blieb nichts anderes übrig, als den Wagen zurückzulassen und Hilfe zu suchen. Ich wagte nicht mal, Sachen aus meinem Koffer zu holen, aus Angst, der Wagen würde dann über den Rand stürzen.
    Ich schaute mich um, versuchte mich zu orientieren. Wo war ich? Näher an Tarascon oder an Vicdessos? Die Sicht war auf wenige Meter zusammengeschrumpft. Die Strecke, die ich gekommen war, hatte der Nebel fast gänzlich verschluckt, und die Straße verschwand ein Stück weiter hinter einer Kurve um den Berghang.
    Dann fiel mir der hölzerne Wegweiser am Straßenrand wieder ein, der vom letzten Blitz erhellt worden war. Da ich an keinem Haus vorbeigekommen war und auch nicht hoffen konnte, auf eines zu stoßen, wenn ich weiter den Berg hinaufging, schien es mir das Vernünftigste, den Wegweiser zu suchen. Vielleicht zeigte er einen Fußpfad an, und ein solcher musste schließlich irgendwohin führen. Und selbst wenn nicht, wäre ich unter den Bäumen geschützter als auf der kahlen Bergflanke.
    Ich schloss die Fahrertür ab, eher aus Gewohnheit denn aus Notwendigkeit, schob die Schlüssel tief in die Tasche, schlug den Mantelkragen hoch, schlang mir den Schal so fest es ging um den Hals und marschierte die Straße hinab.
    Ich ging und ging wie der Good King Wenceslas aus dem Weihnachtslied. Die Welt war weiß geworden. Alle Farbe war verschwunden, es gab kein Licht und keinen Schatten mehr, kein Fleckchen Erde war mehr zu erkennen. Der Nebel hing jetzt reglos im Geäst der Bäume, aber zumindest hatte sich der Wind

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