Wintergeister
gelegt. Nach dem Getöse des Sturms war nun alles sehr still. Lautlos.
Schließlich entdeckte ich den Wegweiser. Ich fegte den Schnee von dem waagerechten Brett, doch dort stand kein Ortsname, bloß ein Pfeil zeigte nach unten. Es sah nicht gerade vielversprechend aus, aber mir blieb wohl nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.
Wohin er auch immer führen mag …
Da hörte ich sie wieder. Dieselbe helle Stimme, schimmernd, undeutlich, von der stillen Luft getragen.
»Ich bin die Letzte, die Letzte …«
»Was zum Teufel …?«
Ich fuhr herum, suchte nach dem Ursprung der Stimme, konnte aber niemanden sehen. Ich redete mir ein, dass Schnee und die Gebirgslandschaft den Augen, der Wahrnehmung so manchen Streich spielen konnten, wieso also nicht auch dem Gehörsinn? Es war niemand in meiner Nähe. Und doch wusste ich, dass ich beobachtet wurde. Mir sträubten sich die Nackenhaare.
Wieder vernahm ich es, über das leise Geräusch des Windes hinweg, dasselbe undeutliche Flüstern.
»Die anderen sind in die Dunkelheit entschwunden.«
Ich starrte hinauf zum verschwommenen Horizont, in die Richtung, aus der das Raunen kam. Und ich schwöre, diesmal sah ich, wie sich auf der anderen Seite des Tales oberhalb der Baumgrenze jemand, etwas bewegte. Ein Umriss vor dem bleiernen Himmel. Mein Herz tat einen Satz.
»Wer bist du?«, schrie ich, als ob ich auf diese Entfernung zu hören gewesen wäre. »Was willst du?«
Doch die Gestalt, falls es sie überhaupt gegeben hatte, war verschwunden. Verwirrung ließ mich noch einen Moment wie angewurzelt verharren. War das eine vom Schock ausgelöste Illusion? Eine verspätete Reaktion auf den Unfall? Welche andere Erklärung gab es? In einer derartigen Einsamkeit konnte jeder unwillkürlich anfangen, sich die Anwesenheit anderer Menschen einzubilden, nur um nicht allein zu sein.
Ich zögerte, konnte mich aus unerfindlichen Gründen nicht losreißen, bis die Kälte mich weitertrieb. Dann trat ich mit einem letzten Blick über die Schulter auf den Pfad, der in den Wald führte, ließ die Stimme zurück. Ließ die Gestalt zurück.
Das glaubte ich zumindest.
Der Weg durch den Wald
D er schmale Fußweg war steil und halb zugewachsen, gerade zwei Mann breit. Aber wie ich gehofft hatte, bot mir das immergrüne Dach der Baumkronen Schutz vor dem Schnee. Ich konnte die gefrorenen Furchen erkennen, die die Räder eines schmalen Karrens hinterlassen hatten, und die Hufabdrücke eines Pferdes oder vielleicht eines Ochsen. Meine Stimmung besserte sich ein wenig. Zumindest hatte irgendwer vor nicht allzu langer Zeit diesen Weg genommen.
Bald gelangte ich an eine Gabelung. Der Pfad zu meiner Linken sah aus, als würde er stärker genutzt. Eichen und Buchsbäume trieften vor Nässe. Alles roch nass, die Blätter auf der Erde und die spitzen Nadeln der Tannen. Der Pfad zu meiner Rechten sah ähnlich aus, Buchsbäume und Weißbirken, aber er war viel steiler. Anstatt im Zickzack zu verlaufen, führte er geradewegs den Hang hinab.
Ich blickte auf meine Stiefel. Fitwells waren angeblich, zumindest warb die Marke damit, für alle Wetterbedingungen geeignet, doch ich glaubte kaum, dass die Hersteller dabei auch an regelrechtes Bergsteigen gedacht hatten. Dennoch, sie hielten, obwohl die Kälte durch die Sohlen kroch und mir trotz zwei Paar dicker Wollsocken fast die Zehen abfroren. Ebenso wie die Finger. Die Hose klebte mir an den Waden. Je schneller ich aus der Kälte kam, desto besser.
Daher entschied ich mich für den rechten Pfad, weil ich annahm, dass er kürzer sein müsse. Er hatte etwas Trostloses an sich, vermittelte ein Gefühl von Verlassenheit und Erstarrung. Es gab keine Fußspuren, keine Wagenrillen, keinerlei Abdrücke im weichen Grund. Selbst die Luft schien hier kälter.
Es ging so steil abwärts, dass ich die Knie tief beugen und mich an überhängenden Ästen festhalten musste, um nicht auszugleiten.
Verschlungene Wurzeln alter Bäume zogen sich kreuz und quer über den Weg. Steine, Unebenheiten und herabgefallene, schon fast versteinerte Äste, rutschig vereist, ragten aus dem undurchdringlichen Dickicht zu beiden Seiten. Die Atmosphäre wurde zunehmend klaustrophobisch. Ich fühlte mich wie in einer Falle, als drängte der Wald von allen Seiten auf mich ein. Irgendwie hatte der Weg etwas Groteskes an sich, kam mir vertraut und doch zugleich auch irgendwie verzerrt vor.
Ich spürte, wie ich allmählich die Nerven verlor. Selbst die Tiere schienen diesen seltsamen und
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