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Wintergeister

Wintergeister

Titel: Wintergeister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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erwiderte sie. »Aber nachdem so viele auf dieselbe Art gebrandmarkt worden waren, wurde es zum Symbol eines guten Charakters.«
    »Ein Ehrenzeichen.«
    »Ja.«
    Da begriff ich, dass das Stoffkreuz ein Symbol für Fabrissas Überleben sein könnte und sie es daher möglicherweise behalten wollte, und hielt es ihr hin.
    »Es tut mir leid, ich hätte es nicht abreißen sollen.«
    Sie schüttelte den Kopf. Ich zögerte und steckte das Kreuz dann wieder ein. Es war wahrhaftig ein unorthodoxes Zeichen der Liebe, aber vorläufig musste ich mich damit begnügen.
    »Die Überfälle häuften sich. Ganze Dörfer wurden festgenommen, so sagte man – Männer, Frauen, Kinder. In Montaillou, kaum einen Tagesmarsch entfernt, wurden alle, die älter als zwölf Jahre waren, vor das Gericht in Pamiers gebracht. Die Verhöre zogen sich wochenlang hin. Man sprach im Flüsterton darüber, hinter vorgehaltener Hand und hinter verschlossenen Türen. Trotzdem hofften wir weiter, dass unser Dorf zu klein war, um für irgendjemanden außer uns selbst von Bedeutung zu sein.«
    Zum zweiten Mal in wenigen Tagen kamen mir die verstaubten Worte meines Schullehrers in den Sinn. »Ein grünes Land, getränkt mit dem roten Blut der Gläubigen«, murmelte ich.
    Fabrissa reagierte auf meine Worte sofort. Ihre Augen leuchteten auf.
    »Weißt du etwas über unsere Geschichte?«
    »Leider sehr wenig. Nur, dass diese Gegend schon so manche kriegerische Auseinandersetzung erlebt hat.«
    »Dann wirst du auch von den endlosen Jahren wissen, die wir in der ständigen Furcht lebten, die Menschen, die wir liebten, könnten nachts von uns genommen werden. Nie zu wissen, wem man trauen konnte, das war das Schlimmste. Es gab solche, die sich durch das Versprechen von Sicherheit und Reichtum dazu verführen ließen, Verräter zu werden. Die ihre Nachbarn und Freunde denunzierten. Ich fürchtete unsere Feinde, aber ich hasste sie nicht.« Sie stockte. »Doch es war schwer, diejenigen nicht zu verachten, die sich von dem, was sie waren, abwandten und sich dem Kampf gegen uns anschlossen.«
    Ich nickte. In der Frühzeit des Krieges, ich vermute, das war während Georges erstem Heimaturlaub, bekam ich einmal durch die angelehnte Tür zum Arbeitszimmer mit, wie er und Vater sich unterhielten. Ich erinnere mich daran, dass er sagte, er hege keinen Hass auf die einfachen deutschen Soldaten, Männer, die wie er für ihr Land kämpften, anständig und ehrlich. Vaters Bestätigung, »ja, ja«, dichter Zigarettenrauch und Whiskygeruch in der Luft. Aber für diejenigen, die nicht kämpfen wollten, die Kriegsdienstverweigerer und diejenigen, die für die Gegenseite spionierten, hatte George bloß Verachtung übrig. Und während ich, aus dieser Männerwelt ausgeschlossen, in der Diele lauschte, hörte ich die Bewunderung in Vaters Stimme. Und, Gott helfe mir, ich war eifersüchtig.
    »Ich wusste gar nicht, dass die Deutschen in diesem Teil Frankreichs aktiv waren«, sagte ich ebenso sehr zu mir selbst wie zu Fabrissa, um die traurigen Erinnerungen abzuschütteln. Ich kannte die Liste der Schlachten – Loos, Arras, Ypern, Passchendaele –, jede für den gewaltigen Verlust an Menschenleben ebenso berüchtigt wie für ihren vermeintlichen militärischen Erfolg berühmt. Aber ich konnte mich an kein einziges größeres Gefecht südlich der Loire erinnern.
    »Nein«, sagte sie. »Ich war jung, aber ich wusste bereits, dass es in dem Krieg nicht um Glaubensfragen ging, sondern vielmehr um Gebietsansprüche und Reichtum und Gier und Macht.«
    »Ja«, sagte ich und musste an Georges Verachtung für die Politiker denken, die gute Männer in den Tod schickten.
    Das Licht wurde stärker, verlieh der Welt wieder Formen. Ich schaute Fabrissa an und sah, wie überaus blass ihre Haut war, ihr Teint in der Morgendämmerung beinahe blau.
    »Und dann, eines Tages, geschah es. Die Soldaten kamen zu uns.«

Exodus
    M ein Herz sackte herab wie ein Stein. »Weißt du, du musst nicht … falls es dir zu schwerfällt.«
    Wie sehr wollte ich sie vor dem Schmerz des Erinnerns bewahren. Wie sehr wollte ich sie in die Arme nehmen und ihr sagen, dass alles gut war. Aber das war es natürlich nicht. Wie auch?
    Fabrissa schüttelte leicht den Kopf, ließ sich aber nicht beirren. Und mir wurde klar, dass sie, nachdem sie einmal angefangen hatte, die Sache zu Ende bringen musste.
    »Es war Dezember«, fuhr sie fort. »Ein strahlender Tag, sehr kalt, mit einer gleißend weißen Sonne und blauem Himmel. Am

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