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Wintergeister

Wintergeister

Titel: Wintergeister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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sich zu mir. »Was ist das?«
    »Gauloise«, erwiderte ich. »Normalerweise rauche ich Dunhill, aber die bekommt man hier unten nicht.«
    Ich hielt ihr das geöffnete Etui hin. Sie schüttelte den Kopf, schien aber fasziniert zu beobachten, was ich da machte. Sie schaute aufmerksam zu, als ich eine Zigarette zwischen die Lippen klemmte, ein Streichholz anriss, die Flamme mit der Hand abschirmte und an die Zigarette hielt. Ihre Augen weiteten sich, als ein Rauchwölkchen in die Morgenluft aufschwebte, und sie hob die Hand, als wollte sie es sich um den Finger wickeln wie einen Faden.
    »Das ist schön.«
    »Schön?« Ich lachte entzückt. »So kann man es wohl auch sehen.« Ich klappte das Etui zu und schob es zusammen mit den Streichhölzern zurück in die Tasche. »Du bist bemerkenswert. Ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass ich noch nie jemandem wie dir begegnet bin.«
    »Ich bin nicht anders als andere«, sagte sie.
    Ich lächelte und dachte, wie sehr sie doch irrte und wie hinreißend es war, dass sie es nicht merkte.

Fabrissas Geschichte
    W ir saßen eine Weile schweigend da. Ich rauchte. Sie richtete den Blick auf den dunklen Horizont, als zählte sie die Sterne. Waren überhaupt Sterne zu sehen? Ich weiß es nicht mehr.
    Dann hörte ich, wie sie tief einatmete, und begriff, dass Fabrissa ihre Geschichte in Gedanken sortiert hatte, genau wie ich zuvor. Ich drückte die Zigarettenkippe unter meiner Stiefelsohle aus und wandte mich Fabrissa zu, um ihr zu lauschen. Ich wollte alles wissen, was sie bereit war, mir über sich zu erzählen, einfach alles. Winzige Details. Belanglose, wunderbare Details.
    »Ich wurde an einem Nachmittag im Frühling geboren«, begann sie. »Nach einem harten Winter erwachte die Welt gerade wieder zum Leben. Der Schnee war geschmolzen, und die Bäche flossen wieder. Winzige Bergblumen erfüllten die Hochtäler mit Blau und Rosa und Gelb. Mein Vater sagte gern, dass er am Tag meiner Geburt den ersten Kuckuck singen gehört hat. Ein gutes Omen, sagte er.
    Unsere Nachbarn brachten einen Laib Brot, den sie gebacken hatten, aus Weißmehl, nicht dem groben braunen Korn. Auch andere kamen mit Geschenken: einer braunen Wolldecke für den Winter, Fellen, einem Tonbecher, einer Holzkiste mit Gewürzen. Das Kostbarste von allem war Salz, eingewickelt in ein Stück blau gefärbten Baumwollstoff.
    Es war Mai. Die Hirten und ihre Herden waren bereits von den Winterweiden in Spanien zurückgekehrt, und im Dorf herrschte lärmendes Leben – die Frauen plauderten auf dem Kirchplatz, die Fußpedale ihrer Webstühle klapperten auf den Kopfsteinen.«
    Sie hielt inne. Ich wollte sie ihre Geschichte in ihrem eigenen Tempo erzählen lassen, auf ihre eigene Weise, so wie sie es zuvor mir ermöglicht hatte. Außerdem war das Vergnügen, ihrer Stimme zu lauschen, so groß, dass sie auch einen Einkaufszettel hätte runterbeten können und es wäre immer noch Musik in meinen Ohren gewesen.
    »Meine Geburt wurde als ein Zeichen dafür gesehen, dass sich alles zum Besseren wenden würde«, sagte sie. »Meine Mutter und mein Vater waren im Dorf beliebt und angesehen. Sie waren ehrbare Leute aus der Gegend. Mein Vater schrieb Briefe für diejenigen, die nicht lesen oder schreiben konnten. Anderen, die Beistand oder seine Hilfe benötigten, erklärte er, wie mit der Obrigkeit umzugehen war. Jedermann füllte die Rolle aus, die seinem Charakter am besten entsprach.«
    »Ich verstehe«, sagte ich, obwohl das nicht stimmte.
    »Nach Jahren der Gewalt und Verfolgung schien es, als hätten unsere Feinde ein anderes Ziel ins Auge gefasst, und eine Zeit lang lebten wir in Frieden. Natürlich gab es die üblichen Auseinandersetzungen und Zwistigkeiten, wie sie bei Gemeinden, die im Schatten des Krieges leben, häufig auftreten. Aber das waren vereinzelte Vorkommnisse, keine Zeichen einer systematischen Unterdrückung. Und obwohl jeder von uns jemanden kannte, der ergriffen worden war, wurden die meisten wieder auf freien Fuß gesetzt und nur damit bestraft, das Kreuz zu tragen.«
    Instinktiv glitt meine Hand in meine Tasche. Ich nahm das Stoffstück heraus und legte es mir übers Knie.
    »Es war dazu gedacht, Menschen zu kennzeichnen?«
    Ich betrachtete das ausgefranste Stück Stoff, dessen Gelb trist und ausgeblichen war. Ich hatte gehört, dass die Deutschen Strafen gegen Bürger verhängt hatten – die
»Times«
berichtete darüber –, aber so etwas war mir neu.
    »Es war als Schandmal gedacht, keine Frage«,

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