Wintergeister
Nachmittag verweilte das Licht etwas länger als sonst auf den Bergen, ein goldener Schein, der sich wie ein Seidentuch über die verschneiten Gipfel der Sabarthès-Berge, über den Roc de Sédour legte. Alles war golden und weiß bemalt. Und ich erinnere mich noch, dass ich dachte, wie schwer es doch war, nicht zu glauben, dass Gottes Hand einen solchen Tag erschaffen hatte, obwohl das unserem Glauben widersprach.«
Ich sah sie an, gerührt von einem so schlichten Glaubensbekenntnis. Doch schon war die Freude der Erinnerung verschwunden und ihre Miene wieder ernst.
»Als es Abend wurde, gingen alle in den Ostal zur
fête
.«
»Zur
fête de Saint-Étienne?
«
Sie nickte. »Es ging das Gerücht, dass in Tarascon Soldaten gesichtet worden waren, aber da das ein ganzes Stück weit weg war, sahen wir keinen Grund zur Sorge. Wir vermuteten auch, dass unsere Feinde Listen mit Namen hatten, Kenntnisse von Besitztümern und alten Gefolgschaften, die sie nur von denjenigen erhalten haben konnten, die unerkannt unter uns lebten.«
»Denjenigen, die nicht gezwungen waren, das gelbe Kreuz zu tragen?«
»So einfach war das nicht«, sagte sie und stockte dann. »Was wir nicht wussten, während wir uns zum Fest versammelten, war, dass bereits ein Trupp Soldaten durch das Tal heranzog. Diesmal waren die Gerüchte wahr.
Meine Eltern, mein Bruder und ich hatten die vorangegangenen zwei Tage bei der Familie meiner Mutter in Junac verbracht, auf der anderen Seite des Tales. Unsere Heimreise hatte länger gedauert als gedacht, und die Kälte hatte meinem Bruder schwer zu schaffen gemacht.«
»Du hast einen Bruder?«, flüsterte ich und wusste doch, noch während ich es aussprach, wie albern es von mir war, mich so über diese Gemeinsamkeit zwischen uns zu freuen. »Einen älteren Bruder?«
»Er war drei Jahre jünger«, sagte sie leise.
»War?«
Sie schüttelte den Kopf. Ich machte mir Vorwürfe wegen meiner Unbeherrschtheit. Hatte ich denn noch immer nicht begriffen, dass Fabrissa die Geschichte auf ihre eigene Weise und in ihrem eigenen Tempo erzählen würde?
»Verzeihung, ich hätte dich nicht unterbrechen sollen.«
»Als wir schon fast zu Hause waren, kam ein Junge aus dem Wald gerannt. Er war völlig verstört, stammelte und redete so schnell, dass wir nicht verstanden, was er sagen wollte. Mein Vater konnte ihn beruhigen und dem verängstigten Kind mit großer Geduld entlocken, dass …«
Sie verstummte, die Augen weit aufgerissen.
»Dass was?«
»Dass es Massaker gegeben hatte. Dass Dörfer weiter unten im Tal niedergebrannt worden waren. Dass man alte Männer, Frauen, wo sie gingen und standen, niedergestreckt hatte. Auch Kinder. Dass die Felder mit Blut getränkt waren.«
Mir wurde kalt. »Großer Gott!«
»Natürlich konnten wir nicht wissen, ob das, was er sagte, stimmte«, fuhr sie fort. »In den Wochen zuvor hatte es so manchen falschen Alarm gegeben. Wir hatten keinerlei Gewissheit.«
Ich fischte eine weitere Zigarette aus meinem Etui und zündete sie an.
»Was habt ihr gemacht?«
»Meinem Bruder ging es sehr schlecht, daher beschloss mein Vater, ihn und meine Mutter nach Hause zu bringen. Er sagte, ich solle vorausgehen, zum Ostal, und dass er so bald wie möglich nachkommen würde. Ehe wir uns trennten, musste ich ihm versprechen, niemandem zu erzählen, was wir von dem Jungen erfahren hatten. Ob wahr oder falsch, sein Bericht würde Bestürzung und Panik auslösen. Es war besser zu warten, bis mein Vater sich mit den anderen beratschlagen und entscheiden konnte, was wir machen sollten.
Als ich im Ostal ankam, waren alle guter Dinge. Das ganze Dorf war gekommen, um zu feiern. Mein Herz weinte, weil ich wusste, dass diese Art zu leben in wenigen Stunden für immer vorbei sein konnte.«
»Das war bestimmt sehr schwer.«
»Also saß ich da, mit dem, was ich wusste, und doch gezwungen, mir nichts anmerken zu lassen. Und die ganze Zeit behielt ich die Tür im Auge, wartete auf meinen Vater. Als er schließlich kam, zog er sich sofort mit Guillaume Marty, Sénher Bernard, Sénher Authier und den anderen zurück.« Fabrissa zögerte. »Später erfuhr ich, dass mein Vater den Jungen noch weiter befragt und sich vergewissert hatte, dass das, was er erzählte, die Wahrheit war, ohne irgendwelche Übertreibungen. Er wies meine Mutter an, so viele Habseligkeiten zusammenzupacken, wie wir tragen konnten, und schickte den Jungen los, alle zu verständigen, die nicht zur Feier in den Ostal gekommen waren. Das
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