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Wintergeister

Wintergeister

Titel: Wintergeister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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Wald heruntergekommen, von Osten, von oben von der Straße her.«
    »Es war noch dunkel, als wir auf halber Strecke die Stelle erreichten, wo die beiden Pfade zusammentreffen. Mein Bruder konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Er sagte nichts, aber es war offensichtlich, dass er es nicht mehr weit schaffen würde. Daher beschloss mein Vater, dass wir nicht mit den anderen weitergehen, sondern eine Weile rasten würden, um später zu versuchen, sie bei Tagesanbruch einzuholen. Er erinnerte sich an einen unwegsameren, aber direkteren Pfad hinauf zu den Höhlen, den er mal als Kind entdeckt, aber seitdem nie wieder benutzt hatte. Falls sein Gedächtnis ihn nicht trog, so sagte er, führte ein steiler Anstieg hinauf zu einem Plateau, das ganz in der Nähe der Höhle lag, zu der alle wollten.
    Wir verabschiedeten uns von unseren Freunden, wünschten ihnen alles Gute und hofften, sie am nächsten Morgen wiederzusehen. Wir versteckten uns im Unterholz, dicht aneinandergedrängt, um uns gegenseitig zu wärmen, und breiteten die Decken über uns, um so die Nacht abzuwarten.
    Jean war ruhig, obwohl mir das Schluchzen und Rasseln des Atems in seiner Brust verriet, dass er weinte. Ich gab ihm Wein und redete ihm gut zu, ein wenig Brot zu essen. Ich wagte es nicht, ihn in den Schlaf zu singen, aber ich streichelte ihm das Haar und hielt ihn eng an mich gedrückt, um seinem mageren, zitternden Körper ein wenig Wärme zu verschaffen. Ganz allmählich wurde sein Atem ruhiger, und schließlich schlief er ein. Ebenso wie ich.«

Bei Tagesanbruch
    M ein Vater rüttelte mich wach. Der Morgen graute. Wir konnten die Rufe der Soldaten unten im Tal hören, ihre derben Worte wurden von der dünnen Morgenluft bis zu unserem Versteck getragen. Sie mussten wissen, dass wir noch nicht weit sein konnten. Wir hatten keinerlei Sorge, dass einer der Unseren, die zurückgeblieben waren, uns verraten würde, doch ich fürchtete um ihre Sicherheit.«
    »Wurden sie …?« Ich vollendete die Frage nicht.
    »Wir sahen sie nicht wieder«, erklärte sie schlicht.
    Mehr musste sie nicht sagen.
    »Jean war noch schwächer. Die Nachtluft und der Schrecken unserer Lage hatten an seinen Kräften gezehrt. Mein Vater trug ihn auf dem Rücken, meine Mutter und ich folgten hinterdrein. Zuerst gingen wir den steileren der beiden Pfade ein Stück zurück, um nach dem verborgenen Weg zu suchen, den mein Vater in Erinnerung hatte. Alles war verlassen und still. Und immer hörten wir die Rufe von unten, die Rufe der Soldaten. Es dauerte nicht lange, bis wir eine Lücke im Unterholz entdeckten. Mein Vater zog die dichten Äste eines Lorbeerbaumes beiseite, und dahinter kamen uralte Wurzeln zum Vorschein.«
    Fabrissa lächelte bei der Erinnerung daran.
    »Eigentlich sah es aus, als hätte da jemand eine Treppe aus Holz gebaut, und das sagte ich auch. Jean fand das lustig, und von da an gab ich mir alle Mühe, ihn zu zerstreuen, ihn abzulenken.«
    Ihr Gesicht wurde wieder ernst.
    »Aber er hustete nun fast ununterbrochen. Mehr als einmal musste mein Vater ihn behutsam zu Boden gleiten lassen, und dann warteten wir, bis Jean mühsam wieder zu Atem kam.
    Endlich erreichten wir ein Plateau, kaum mehr als ein Vorsprung in der Felswand. Ich sah meinem Vater an, wie erleichtert er war, dass seine Erinnerung ihn nicht getäuscht hatte. Über uns bemerkte ich einen halbmondförmigen Spalt in der Bergwand, der durch eine überhängende Felskante abgeschirmt war. Von unterhalb des Plateaus war die Höhlenöffnung überhaupt nicht zu sehen. Vom Eingang führte ein kurzer Gang in einen größeren Raum, der wiederum mit einer Vielzahl von Höhlen tief im Innern des Berges verbunden war.
    Dann hörten wir Stimmen, und bald darauf waren wir wieder mit unseren Nachbarn vereint.«
    Ein Seufzer entwich meinen Lippen.
    »Jede Familie hatte für sich einen kleinen Bereich, wo sie ihr Lager aufschlug. Zu Anfang war die Stimmung hoffnungsvoll. Die Kinder waren von dieser unterirdischen Welt begeistert und spielten, und die Frauen halfen meiner Mutter, Jean zu pflegen. Zunächst erholte er sich und wurde mit jedem Tag ein wenig kräftiger.«
    Ich runzelte die Stirn. »Mit jedem Tag? Wie lange wart ihr denn in den Höhlen?«
    »Eine lange Zeit.«
    »Wochen?«, fragte ich entsetzt von der Vorstellung.
    »Länger.« Sie atmete tief durch. »Es war Winter, daher hatten wir angenommen, dass die Soldaten aufgeben und uns bis zum Frühjahr in Frieden lassen würden. So war das in der

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