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Wintergeister

Wintergeister

Titel: Wintergeister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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in die Richtung, in die ihr Finger deutete, und erkannte den Kirchturm, das Gewirr aus Häusern und Gebäuden und Gassen, das Nulle ausmachte. Der Ostal lag weiß im Mondlicht direkt unterhalb von uns. Nichts rührte sich. Niemand war unterwegs. Keine Lichter brannten. Ich konnte nichts anderes hören als das ewige Schweigen der Berge.
    »Gehörte das alles zu den Feierlichkeiten?«, fragte ich. »Die Soldaten, die Kämpfe?«
    Doch so gern ich mich auch überzeugen lassen wollte, dass es keinen Grund für mich gab einzuschreiten, alles hatte zu brutal gewirkt, um bloß gespielt zu sein.
    »Komm!«, sagte sie ruhig. »Es bleibt nur wenig Zeit.«
    »Wohin gehen wir?«
    »Zu einem Ort, wo wir noch ein Weilchen länger beisammensitzen und reden können.«
    Fabrissa schritt ohne ein weiteres Wort hangabwärts und ließ mir keine andere Wahl, als ihr zu folgen. Sie ging schnell, wobei ihr das lange blaue Gewand um die Beine wirbelte. Ihr Haar schwang hin und her, und immer wieder sah ich kurz das gelbe Kreuz. Ohne lang nachzudenken, was ich tat, eilte ich ihr nach und hatte sie bald eingeholt.
    »Warte!«, sagte ich. Mit einem kräftigen Ruck riss ich ihr das ausgefranste Stück gelben Stoff vom Rücken. »So. Das ist schon besser.«
    Sie lächelte. »Warum hast du das gemacht?«
    »Ich weiß nicht recht. Es sah irgendwie falsch aus. Als gehörte es nicht dorthin.« Ich zögerte. »Bist du verärgert?«
    Ich sah in ihre grauen Augen, spürte ihren Blick über mein Gesicht gleiten, als wollte sie jede Einzelheit genau in Erinnerung bewahren. Sie schüttelte den Kopf.
    »Nein. Das war tapfer.«
    »Tapfer?«
    »Ehrenwert.«
    Während ich noch über ihre Wortwahl nachsann, war Fabrissa schon weitergegangen. Ich stopfte mir das Kreuz aus Stoff in die Tasche und folgte ihr.
    »Also, was haben die Kreuze zu bedeuten? Ich hab etliche andere Gäste gesehen, die auch eins trugen.«
    Sie antwortete nicht, noch verlangsamte sie ihre Schritte. Wo sie war, schien sich die Nachtluft zu verändern, und etwas an dem glasigen Mondlicht vermittelte mir den Eindruck, dass sie nicht aus Fleisch und Blut war, sondern aus Luft oder Wasser. Ich wollte nicht weiter nachfragen. Ich wollte das zarte Gleichgewicht zwischen uns nicht gefährden, und das war mir wichtiger als alle Fragen, auf die ich gern eine Antwort bekommen hätte.
    Der Pfad wand sich talwärts durch das mit Reif bedeckte Gras. Ich warf einen Blick über die Schulter und sah die Öffnung des Tunnels hinter uns kleiner werden. Wir näherten uns jetzt dem Dorf, doch anstatt weiter darauf zuzuhalten, führte mich Fabrissa auf halbem Wege zu einem kleinen Weiher und bedeutete mir, dass wir rasten sollten. Ich setzte mich auf den bemoosten Stamm eines umgestürzten Baumes, dankbar für die Gelegenheit, meine Füße ausruhen zu können. Die weich besohlten Stiefel hatten doch angefangen zu drücken.
    Das Schwarz des Himmels färbte sich allmählich dunkelblau. Als ich zurück auf den Weg blickte, den wir gekommen waren, konnte ich so gerade eben meine Fußspuren im Morgentau der Wiese erkennen. Bald würde es dämmern.
    Ich dachte kurz, wie seltsam es war, dass im Dezember Tau auf dem Gras lag, und dann, dass ich eigenartigerweise nicht fror, obwohl ich Mantel und Mütze im Ostal zurückgelassen hatte. Ich fühlte mich merkwürdig schwerelos, als wäre, nachdem ich den Abend in Fabrissas Gesellschaft verbracht hatte, etwas von ihrer Zartheit und Leichtigkeit auf mich übergegangen.
    Ich schaute nach unten auf die stille Wasserfläche. Meine Augen, von Übermüdung umschattet, starrten mich in der schleichenden Morgendämmerung an, und meine Wangen waren hohl von mangelndem Schlaf. Fabrissas Spiegelbild war weniger klar. Ich wandte mich um, fürchtete schon, sie habe sich davongestohlen, doch sie war noch da.
    »Ich hatte Angst, du …«
    »Noch nicht«, sagte sie, meine Gedanken lesend.
    »Wir müssen nicht zurückgehen.«
    »Es ist noch ein wenig Zeit.« Sie lächelte. »Ich würde dir gern etwas über mich erzählen, so du den Wunsch hast, mir zuzuhören.«
    Mein Herz tat einen Sprung. »Alles, was du mir erzählen möchtest, würde ich mit Freuden hören.«
    Ich hatte den ganzen Abend nicht geraucht, wahrscheinlich, weil niemand sonst es tat. Ich hatte nicht mal daran gedacht. Jetzt jedoch griff ich in meine Tasche und holte das Zigarettenetui und Streichhölzer hervor.
    »Darf ich?«, fragte ich, nahm eine Zigarette heraus und klopfte sie auf dem Silberdeckel fest.
    Fabrissa beugte

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