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Wintergeister

Wintergeister

Titel: Wintergeister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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Felsvorsprüngen in der Wand auf. Ich zupfte ein paar verirrte Zweige und Blätter von meinem Mantel und stand dann wieder auf, um weiterzugehen.
    War ich beunruhigt, weil es keinerlei Anzeichen von menschlichen Behausungen gab? Keine Rauchfahnen zu sehen waren? Nicht mal eine Schäferhütte? Geschweige denn irgendetwas, was auf ein Dorf oder einen Weiler hinwies? Ich glaube nicht, dass mich das verunsicherte. In dem Moment beschäftigte mich nur die Frage, wie ich es bis zum Gipfel schaffen konnte.
    Ich kletterte weiter, obwohl meine Oberschenkel heftig protestierten. Jeder Schritt war eine Qual, ein Willensakt, aber ich fand meinen Rhythmus und behielt ihn bei. Kopf gesenkt, Schultern vorgeschoben, Knie angespannt. Schweiß rieselte mir unter der dicken Pelzmütze den Nacken hinunter, doch ich war nicht so unklug, sie abzunehmen. Meine Finger schwammen in den Handschuhen, und meine Zehen juckten in den Wollsocken und Wanderstiefeln. Alles tat weh.
    Aber ich schaffte es. Auf einmal befand ich mich unmittelbar unterhalb des Spalts im Felsen. Von diesem Blickwinkel aus betrachtet, wirkten einige der Höhlenöffnungen groß genug für einen aufrecht stehenden Erwachsenen. Andere schienen so klein, dass sich nur ein Kind auf allen vieren hätte hineinzwängen können.
    Sobald ich nah genug war, um alles richtig sehen zu können, raubte mir die Schönheit des Ortes den letzten Rest Atem, den ich noch in der Lunge hatte. Der Wind und der Regen, Hitze und Kälte hatten den Felsen über Jahrtausende hinweg geformt. Auf den ersten Blick musste ich an Fotografien der Gräber im Heiligen Land denken, die ich gesehen hatte, an die Tragödie in Massada. Aber hier in der Ariège war alles grün und grau und braun unter einem Hauch von Schnee, völlig anders als das Gelb der Wüste.
    Ich blickte zum Himmel, schätzte ab, wie viel Zeit vergangen war, seit Breillac und seine Söhne sich von mir verabschiedet hatten, und kam zu dem Schluss, dass es etwa ein Uhr sein musste. Mir blieb noch genug Zeit.
    Ich bewegte mich behutsam einen Vorsprung an der Felswand entlang, spähte in die Öffnungen und kämpfte ein aufkeimendes Gefühl der Enttäuschung nieder. Keine konnte der Zugang zu der Höhle sein, in die sich Fabrissa und ihre Familie geflüchtet hatten. Die meisten Höhlen waren nur ein oder zwei Meter tief. Und ich konnte auch keine entdecken, in der sie sich jetzt hätten verstecken können.
    Dann bemerkte ich ein grasbewachsenes Band, das sich zwischen den Felsen nach oben wand. Ich drückte eine Schulter an die glatte Wand, um ein wenig Halt zu haben, verdrängte den Gedanken daran, was passieren würde, wenn ich abstürzte, und schob mich vorwärts. Nur noch ein paar Schritte. Nicht runterschauen, Freddie, nicht runterschauen! Und dann sah ich direkt über meinem Kopf einen Überhang aus grauem Gestein, wie eine vorgeschobene Lippe. Darunter befand sich eine halbmondförmige Öffnung.
    Ganz benommen vor Erleichterung lehnte ich mich gegen die Felswand und ließ mir einen Moment Zeit, bis mein Herz sich wieder beruhigte. Ich hatte es geschafft. Ich bot alle mein Kraftreserven auf, um die letzten paar Meter zu überwinden, und endlich war ich da. Vor Fabrissas Höhle.
    Was dachte ich in dem Augenblick? Dachte ich, sie würde mich drinnen erwarten, als spielten wir miteinander Verstecken? Oder dass in der Höhle irgendein Hinweis zu finden sei, der mir verriet, wo ich als Nächstes hingehen solle, wie bei einer Art Schnitzeljagd? Ich weiß es nicht mehr. Ich erinnere mich nur an mein Gefühl von Stolz, diese Herausforderung bestanden zu haben, und an die köstliche Vorfreude darauf, Fabrissa wiederzusehen. Denn ich glaubte noch immer, dass sie irgendwo dort war und darauf vertraute, dass ich sie finden würde.
    »Fabrissa?«, rief ich, doch nur meine eigene Stimme hallte zurück.
    Ich spähte in die Dunkelheit der Höhle. Die Öffnung war an der höchsten Stelle etwa vier Fuß hoch und fünf oder sechs Fuß breit. Ich drehte einen Stein mit der Stiefelspitze um. Die Oberfläche war mit Schnee bestäubt, doch in der feuchten Erde darunter wimmelten Würmer und Käfer. Als meine Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, sträubten sich mir die Nackenhaare. Das war die richtige Höhle, dessen war ich sicher. Aber eine diffuse Angst erfasste mich. Man könnte sagen, eine dunkle Vorahnung. Irgendwas stimmte hier nicht. Ich schob das Gefühl beiseite. Ich würde jetzt nicht aufgeben.
    Ich holte die Taschenlampe hervor.

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