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Wintergeister

Wintergeister

Titel: Wintergeister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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Stätten mit nach Hause bringen. Ich faltete es auseinander. Es war mit einer kritzeligen altmodischen Schrift bedeckt. Ich konnte sie nicht lesen, auch nicht, als ich das Pergament ins Licht hielt. Ich faltete das Blatt wieder zusammen und steckte es in die Tasche, um es später in Ruhe zu studieren.
    Als ich aufsah, bemerkte ich einen Riss in der Felswand direkt vor mir. Ich leuchtete mit der Taschenlampe darauf und trat näher, um ihn mir genauer anzusehen. Da war ein schmaler Gang, ein schwarzer Saum zwischen zwei mächtigen Bergrippen. Er war ungemein eng, und es war nicht abzusehen, wie lang er war oder wohin er führte. Ich bekam schon beim bloßen Hinsehen klaustrophobische Zustände.
    Aber ich zwang mich hineinzugehen. Die Taschenlampe hoch über den Kopf haltend, schob ich mich seitlich hindurch.
    »Ganz ruhig!«, sagte ich zu mir, um mich des widerwärtigen Gefühls zu erwehren, dass die Felswand gegen meine Schulter drückte. »Immer schön ruhig bleiben!«
    Letztlich war der Gang nicht besonders lang, und schon nach wenigen Schritten öffnete er sich zu einer kleinen, rundum geschlossenen Kammer. Anders als in der leeren ersten Höhle stieß ich hier auf Spuren, dass die Kammer bewohnt worden war. Im Dämmerlicht erkannte ich einige Habseligkeiten, die Überreste eines Lagers, Lumpen, die einmal Decken gewesen sein mochten, ein Fetzen Blau oder vielleicht Grau, das war im gelben Licht der Lampe schwer zu sagen.
    »Fabrissa?«
    Warum rief ich erneut ihren Namen? Ich hatte doch schon eingesehen, dass sie nicht hier sein konnte. Aber ich rief trotzdem nach ihr, als hoffte ein Teil von mir selbst jetzt noch, dass sie mich hier erwartete.
    Ich trat näher. Der Lichtstrahl fiel auf Reste von rotem Stoff. Etwas Grünes, Graues und Braunes. Eine irdene Schüssel und der Stumpf einer Talgkerze mit abgebranntem Docht.
    Mein Pulsschlag beschleunigte sich. Mein Unterbewusstsein wusste, was ich da sah, aber ich konnte mich der Erkenntnis noch nicht direkt stellen. Ich konnte sie nicht akzeptieren. Wollte sie nicht akzeptieren.
    Noch etwas anderes fiel mir jetzt auf: ein beißender Geruch. Wie in einer Kirche, nachdem die Gemeinde gegangen ist und das Aroma von kaltem Weihrauch aus dem Weihrauchfass sich noch nicht verflüchtigt hat. Ich kramte ein Taschentuch hervor und hielt es mir vor Nase und Mund. Es stank nach getrocknetem Blut und Öl, aber selbst das konnte den Geruch in der Kammer nicht vollständig überdecken.
    Dann hörte ich es. Das Flüstern. Aber diesmal war es nicht nur eine Stimme, sondern eine Vielzahl, und die Worte überlagerten sich wie bei einem gregorianischen Choral, dessen Melodie echogleich klingt.
    Ich blickte mich wild um. Doch es gab nichts zu sehen. Da bewegte sich nichts in der Dunkelheit. Nichts. Aber das Flüstern war jetzt überall um mich herum, hinter mir, vor mir, über mir, zischelnde Stimmen, schluchzend und rufend, mit dem verzweifelten Verlangen, gehört zu werden.
    »Wir sind die Letzten, die Letzten.«
    »Wo seid ihr?«, schrie ich. »Zeigt euch!«
    Übelkeit stieg in mir auf, und ich stolperte vorwärts. Irgendwas zog mich in die hinterste Ecke der Kammer. Ich wollte nicht dorthin, konnte mich aber nicht abwenden.
    Jetzt eine andere Stimme. Klarer. Deutlicher. Nur an meine Ohren gerichtet.
    »Knochen und Schatten und Staub.«
    »Fabrissa?«, rief ich in die Dunkelheit hinein.
    Ich taumelte weiter, auf das Epizentrum des Klanges zu, bis meine Füße von allein stehen blieben.
    Ich musste nicht mehr weitergehen. Ich wollte nicht hinsehen, aber ich zwang mich dazu. Zwang mich, das anzuschauen, von dem ich wusste, dass ich es nicht sehen wollte. Ich stand inmitten einer Knochenstätte, Männer und Frauen und Kinder, alle Seite an Seite ausgestreckt, als hätten sie sich zum Schlafen niedergelegt und vergessen aufzuwachen.
    Mir brannten die Augen, und ich neigte den Kopf, überwältigt vom Anblick der ärmlichen Gegenstände, Kostbarkeiten. Kerzen, Kochgeschirr, ein umgekippter Krug. Grabbeigaben für diejenigen, die ihrer nicht mehr bedurften.
    Jetzt erst akzeptierte mein Kopf, was mein Herz mir die ganze Zeit schon gesagt hatte. Endlich verstand ich die Geschichte, die Fabrissa mir erzählt hatte, obwohl ich sie zuvor nicht hatte hören wollen.
    Nicht hatte hören können.
    Da waren Überreste von Guillaume Martys langem grünem Gewand, Fetzen von etwas, das noch an dem Ledergürtel um seine Taille befestigt war. Hier, die königsblauen Gewänder mit roter Stickerei, nur noch

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