Winterkill
Nachbar sie für verrückt hielt. In ihrem Zustand wäre es besser gewesen, auf den Krankenwagen zu warten. Die Sanitäter hätten sich um sie gekümmert. Es war nicht nur leichtsinnig, sondern auch sehr gefährlich, mit ihren Verletzungen allein loszuziehen.
Doch sie hatte keine andere Wahl. Sobald sie einen Arzt gefunden hatte und ihre Wunden versorgt waren, musste sie die Stadt verlassen. So schnell wie möglich. Einen neuen Namen annehmen und irgendwo untertauchen, wo niemand sie fand. Wenn Bruno erfuhr, dass sie Sarah zur Flucht verholfen hatte, würde er sie zum Abschuss freigeben. Dann war sie nicht besser dran als Sarah. Er würde sie töten lassen, ganz egal, wie sehr er sie mochte und was sie für ihn getan hatte.
Der Aufzug hielt und sie betrat den notdürftig erleuchteten Flur. Mit der freien Hand öffnete sie die schwere Metalltür zur Parkgarage, die andere presste das Handtuch auf die Platzwunde. Unter dem groben Stoff sickerte Blut hervor und tropfte auf ihren silberfarbenen Pulli. Sie hatte sich zurechtgemacht für den Abend. Der enge Rock und der Pulli betonten ihre schlanke Figur und hätten in dem Club an der Rush/Division mächtig Eindruck gemacht. Die Männer hätten ihr zu Füßen gelegen, und wer weiß, vielleicht wäre sie sogar mit einem mitgegangen.
Sie erreichte ihren Wagen, einen lindgrünen VW Beetle, den Bruno ihr geschenkt hatte, und stützte sich erschöpft auf die Kühlerhaube. Gegen ihren Willen begann sie zu weinen. Warum hatte sie den Männern, die sie verprügelt hatten, nicht gesagt, dass Sarah im Starbucks wartete? Dann wären sie gegangen und sie wäre aus dem Schneider gewesen. Bruno hätte schon dafür gesorgt, dass die Cops sie nicht mit dem Mord an Sarah in Verbindung gebrachthätten. Er hätte ihr eine neue Identität verschafft und sie in eine andere Stadt geschickt, wo sie die Polizei niemals gefunden hätte.
Vielleicht sogar in ein anderes Land. In Frankreich sollte es wunderschön sein, an der Küste in Cannes, wo immer die Filmfestspiele stattfanden. Im Fernsehen hatte sie einen Bericht darüber gesehen. Dort ließ es sich leben. Bruno hätte sie nicht geopfert. Er hätte sich an die Nächte erinnert, die sie zusammen verbracht hatten, und ihr eine neue Zukunft ermöglicht. Und alle paar Wochen hätte er sie besucht, weil er auf das Vergnügen, das sie ihm bereiten konnte, nicht verzichten wollte. Sie hatte Klasse, und es machte ihr nichts aus, mit einem alten Mann wie Bruno zu schlafen. Er konnte sehr charmant sein und war großzügiger als alle anderen Männer, die sie bisher gekannt hatte.
Vorbei, aus und vorbei. Sie wischte sich die Tränen mit der trockenen Seite des blutigen Handtuchs aus den Augen und stieg in ihren Wagen. Ohne sich darum zu kümmern, dass Flecken auf das Polster kamen, warf sie das Handtuch auf den Beifahrersitz. Von Angst getrieben fuhr sie los. Aus der Tiefgarage in das heftige Schneetreiben und auf die verschneite Straße. Nur weg von dem Haus, bevor die Cops auftauchten. Die Polizei durfte sie nicht erwischen, genauso wenig wie Bruno und seine Leute.
Bruno war ungeduldig geworden, sonst hätte er die Killer nicht losgeschickt, sondern gewartet, bis sie ihm die Indianerin in die Arme trieb. Nur ein paar Tage hatte sie bei ihr bleiben sollen, lange genug, um vollkommen sicherzugehen, dass es sich um die Verräterin handelte, und sie ein wenig auszuspionieren. Bruno wollte ihre Schwächen kennenlernen, um ihr ein besonders grausames Ende bereiten zu können. Er hatte wohl herausbekommen, dass Carol im Begriff war, sich mit Sarah anzufreunden und ihr zuverraten, dass sie verfolgt wurde. Möglich, dass er sogar Wanzen in ihrer gemeinsamen Wohnung angebracht hatte.
Warum sie sich mit Sarah angefreundet hatte, wusste sie selbst nicht. Bisher hatte sie immer nur ihren eigenen Vorteil im Auge gehabt. Seitdem ihr Vater erschossen worden war und ihre Mutter in einem Sanatorium dahinsiechte, war sie allein auf der Welt. Sie hatte weder Verwandte noch Freunde, und wenn sie mit Männern ins Bett ging, geschah es, um einen Vorteil für sich herauszuschinden. Oder es war ein One-Night-Stand mit einem besonders heißen Typen. Freundinnen hatte sie keine. Die einzigen Frauen, die sie näher kannte, waren die dummen Hühner, die Bruno um sich scharte und die er manchmal mit ihr zum Shoppen auf der Magnificent Mile schickte.
Sie musste verschwinden, so schnell wie möglich. Es gab keine andere Möglichkeit. Um als Kronzeugin gegen Bruno auszusagen
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