Winterkill
plötzlich schlecht wurde. Mir war so elend, dass ich beinahe zusammengebrochen wäre. Was dann passierte, weiß ich nicht mehr. Klingt auch blöde, nicht wahr?«
»Du hattest einen Blackout?«
»Anscheinend«, antwortete er, »ich verstehe es selbst nicht. Mir wurde plötzlich schwarz vor den Augen, und als ich wieder zu mir kam, saß ich auf der Treppe zum U-Bahnhof. Da fiel mir alles wieder ein. Vor allem du.«
»Hast du so was öfter?«
»Bisher nur zweimal. Im zweiten Studienjahr, als ich zum ersten Mal mit ansehen musste, wie ein Pathologe einen Schädel aufsägte, und vorhin.« Er schien dem Blackout keine große Bedeutung zuzumessen. »Wahrscheinlich die Anstrengung. Tagsüber in der Uni, die halbe Nacht mit dem Taxi auf Tour, das geht mächtig an die Nieren. Das macht der beste Kreislauf nicht mit.«
Sie zögerte eine Weile, bevor sie ihn wieder anblickte und fragte: »Hast du schon mal was vom Wendigo gehört?«
»Wendigo? Das indianische Ungeheuer? Über den hab ich mal gelesen. Ein Menschenfresser, stimmt’s? Einer, der deinen Namen flüstert und dich mit seinen kalten Händen berührt, bevor er dich verschlingt. Netter Bursche. Ich glaube, der kam sogar mal in einem Horrorfilm vor.« Er blickte sie verwundert an. »Wie kommst du denn plötzlich auf den? Hast du schlecht geträumt?«
»Ich weiß nicht«, wich sie aus. »Vorhin, als die Killer hinter mir her waren, dachte ich, ich hätte ihn gesehen. In den Augen eines Cops. Sie wurden plötzlich rot, und ich begann zu frieren, und dann hielt er mich am Arm fest. Wer weiß, was mit mir passiert wäre, wenn ich mich nicht losgerissen hätte.«
Ethan legte wieder einen Arm um ihre Schultern und zog sie dicht zu sich heran. »Das bildest du dir ein, Sarah. Es gibt keinen Wendigo, und wenn doch, treibt er sich bestimmt nicht in Chicago herum. Der gehört in die Wälder, nach Minnesota oder Michigan.« Er sah, wie ihr Blick auf die Zulassung am Armaturenbrett fiel. Es zeigte einen Mann mit Halbglatze und randloser Brille. »Das Taxi gehört meinem Onkel«, erklärte er heiter. »An meinen freien Tagen lässt er mich damit fahren. Ich muss Geld verdienen, ich brauche jeden Dollar für mein Studium.«
»Du studierst noch?«
»Ja, Medizin … dauert eine halbe Ewigkeit. Ich will Kinderarzt werden. Das wollte ich schon, als ich klein war. Ich kann gut mit Kindern.«
»Ein teures Studium«, erwiderte sie.
Er deutete auf ihren linken Fuß. »Soll ich mich mal um deinen verstauchten Knöchel kümmern? Doc Ethan kennt sich mit solchen Verletzungen aus.«
Er nahm seinen Arm von ihren Schultern und streckte eine Hand aus. »Darf ich um Ihren Fuß bitten, Ma’am?«, bat er übertrieben höflich. »Mal sehen, was ich für Sie tun kann, ohne dass Sie Ihre Strumpfhose ausziehen müssen.«
Beide erröteten, als er es sagte, und wagten nicht, einander in die Augen zu sehen. Wie zwei Highschool-Kids, die sich beim »ersten Mal« schämten.
Sie hob vorsichtig das linke Bein und legte es auf seinen Oberschenkel. Er zog vorsichtig ihren Stiefel aus. Die Berührung war noch intimer als die Umarmung und brachte ihre Wangen zum Glühen. So nahe hatte sie sich noch nie einem Mann gefühlt, nicht einmal dann, wenn sie mit ihm geschlafen hatte. Mit Ethan war alles anders. »Es tut verflixt weh«, sagte sie.
Er strich vorsichtig mit der flachen Hand über den geschwollenen Knöchel, rieb so sachte, dass sie fast glaubte, nur einen warmen Lufthauch zu spüren. Unter seiner Berührung schienen sich die Schmerzen aufzulösen. »Und?«, fragte er neugierig. »Spürst du schon was?«
»Das tut gut«, erwiderte sie lächelnd. Sie schloss die Augen und genoss sein sanftes Streicheln. »Es geht mir schon viel besser.« Sie öffnete die Augen, um sich nicht ganz zu vergessen. »Das war ziemlich knapp vorhin, nicht wahr? Woher wusstest du, wo ich war?«
»Wusste ich doch gar nicht«, antwortete er. »Ich hab den ganzen Abend nach dir gesucht. Als ich zu Starbucks kam, warst du nicht mehr da, und der Typ hinter dem Tresen wusste auch nicht, wohin du gegangen bist. Also setzte ich mich in mein Taxi und fuhr los. Ich wollte dich unbedingt wiedersehen. Ich hatte sogar mein Licht ausgeschaltet, damit ich keinen Fahrgast im Wagen sitzen habe, falls ich dich entdecke. Die Chancen standen eins zu tausend, dass ich dich finde. Such du mal jemand in Chicago. Aber derSchutzengel war wohl diesmal auf meiner Seite.« Er blickte sie aus seinen blauen Augen an. »Du bist doch nicht böse,
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