Winterkill
doch Sarah flehte ihn an, weiterzufahren, und er ging darauf ein.
Sie fand ihre Monatskarte, die sie glücklicherweise in ihre Anoraktasche gesteckt hatte, und zeigte sie dem Fahrer. Dann ließ sie sich erschöpft auf einen Sitz fallen. Die neugierigen Blicke der anderen Fahrgäste beachtete sie nicht. »Was jetzt?«, fragte sie sich leise.
Havelka war mitten auf einer Kreuzung, als ihr Handy klingelte. Sie wartete, bis sie in der ruhigeren Seitenstraße war, und blickte auf das Display. Hätte ich mir ja denken können, dachte sie. Nachdem es zwei weitere Male geklingelt hatte, ging sie dran. »Hey, Harry.«
»Karen«, erklang die Stimme ihres Verlobten. »Ich dachte, du wolltest heute etwas früher Schluss machen. Wie wär’s mit einem Snack im Bistro gegenüber? Shrimps in Knoblauchsoße.«
»Klingt verlockend«, erwiderte sie, »doch es wird heute eher etwas später. Wahrscheinlich nach Mitternacht. Aber wir holen das nach. Morgen Abend?«
Er klang leicht genervt. »Das hast du gestern und vorgestern auch schon gesagt. Und ich dachte, Anwälte hätten wenig Zeit. Warum hängst du deinen Job nicht an denNagel, Karen? Ich verdiene genug für uns zwei. Du könntest dich bei einem Charity-Verein engagieren und mich zu den Tagungen begleiten, das macht sich immer gut.«
»Das hatten wir doch schon tausend Mal, Harry. Ich bin keine Tussi, die man wie eine Trophäe rumzeigt. Ich bin eine erwachsene Frau mit einem verantwortungsvollen Job, und wenn dir das nicht passt …« Im Hörer tutete es leise. »Tut mir leid, Harry, da kommt ein wichtiger Anruf.« Sie drückte ihn weg und meldete sich. »Dens? Haben wir was über die beiden Frauen?«
Obwohl es sich nicht um einen Mord handelte, leitete sie die Ermittlungen. Als vorübergehende Leiterin der »Major Case Squad« ahnte sie, dass der zweifelhafte Selbstmord von Candice Morgan und der bewaffnete Überfall auf die jungen Frauen in Wrigleyville sehr wohl in ihren Zuständigkeitsbereich fielen. Sie hatte Densmore beauftragt, einen Background-Check über die Frauen durchzuführen, und war losgefahren.
»Sarah Anderson«, las Densmore von seinem Monitor ab. »Zweiundzwanzig, ledig, seit zwei Jahren in Chicago. Assistant Curator im Field Museum. Eine Irokesin aus Oneida im Staat New York. Besuchte das College in Rochester. Keine Vorstrafen, nicht mal zu schnelles Fahren. Blütenweiße Weste.«
»Eine Indianerin?«, fragte sie.
Sie hörte, wie er auf seiner Tastatur herumhackte. Dens war nie besonders sanft mit seinem Computer umgegangen. »Eine Oneida, um genau zu sein. Ein Stamm der Irokesen-Liga.« Er grinste unverhohlen. »Bei denen hatten die Frauen das Sagen, wussten Sie das?«
»Bei uns nicht?«, konterte sie, ohne ihren Tonfall zu verändern. »Geben Sie eine Fahndung nach ihr raus, Dens. Ich nehme an, dass sie sich irgendwo vor den Burschenversteckt. Sie haben schon einmal auf sie geschossen. Erledigen Sie das gleich, Dens. Wer weiß, wie dicht sie ihr auf den Fersen sind.«
»Schon geschehen, Lieutenant.«
»Gute Arbeit, Detective. Und die andere? Wie hieß sie noch? Carol …«
»Heisler … Carol Heisler«, half er ihr auf die Sprünge. »Jetzt wird’s interessant, Lieutenant. Carol Heisler starb vor einem Jahr an Altersschwäche. Sie wäre morgen dreiundneunzig geworden.«
»Interessant. Die Frau, die zusammengeschlagen wurde, hat sich ihren Namen von einer Toten geliehen. Okay, Dens. Wir wissen, dass sie Verletzungen im Gesicht hat. Klappern Sie alle Krankenhäuser nach einer solchen Frau ab. Haben Sie Ihr Führerschein-Foto angefordert? Das gibt es doch?«
»Natürlich«, antwortete Densmore, »obwohl natürlich niemand weiß, wie aktuell es ist. Aber die Fahndung nach ihr geht ebenfalls raus. Ich nehme die Beschreibung, die wir von den Officers am Tatort bekommen haben. Okay?«
»In Ordnung, Dens. Ich versuche inzwischen, ein aktuelles Foto von ihr aufzutreiben. Falls ich eins finde, lasse ich es Ihnen zukommen. Und, Dens … checken Sie Sarah Anderson noch mal durch. Ist bestimmt kein Zufall, dass sich die beiden eine Wohnung geteilt haben. Rufen Sie im Oneida-Reservat an, bei der Stammesregierung, im College, im Casino … irgendwer erinnert sich bestimmt an sie. Beeilen Sie sich!«
»Aber es ist schon nach acht.«
»Irgendwen werden Sie schon auftreiben«, sagte sie, »und wenn’s nur der Hausmeister ist. Falls wir es hier mit etwas Größerem zu tun haben, will ich vorbereitet sein.« Sie zögerte. »Sie hatten doch heute Abend nichts
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