Winterkill
worden war, machte Kevin Gruber einen erstaunlich heiteren Eindruck.
»Sie haben die beiden Täter gesehen?«, fragte Havelka, nachdem sie sich vorgestellt hatte. Sie zückte ihren Notizblock und kritzelte etwas darauf. »Können Sie die Männer beschreiben?«
»Leider nein«, bedauerte Gruber, »es ging alles so furchtbar schnell. Bevor ich michs versah, waren sie schon vorbei. Sie rannten mich regelrecht über den Haufen. Wie ich den Officers schon sagte: Ich weiß nur, dass sie schwarzeMäntel trugen. Mäntel oder Anzüge. Und dass sie weiß waren. Ungefähr dreißig oder vierzig. Normale Männer.«
Was immer das bedeutete, dachte sie. »Sarah rannte vor ihnen davon?«
»Ihr blieb gar nichts anderes übrig. Die Männer hatten Pistolen dabei. Ich nehme an, sie wollten Carol vergewaltigen und Sarah überraschte sie dabei. Carol war übel zugerichtet. Ich verstehe nicht, warum sie weggelaufen ist. Sie brauchte dringend einen Arzt, so wie sie aussah. Sie hätte doch nur auf den Krankenwagen zu warten brauchen. Aber das habe ich alles schon den Officers erzählt.« Er blickte Colby an.
Havelka ging nicht auf seinen Einwand ein. »Wie gut kannten sie die beiden Frauen? Sie wohnen nebenan?«
»Zwei Türen weiter«, erwiderte er, »aber besonders gut kannte ich sie nicht. Wie ein Nachbar eben. Ein kleiner Plausch, mehr war da nicht. Leider. Sie sehen wirklich gut aus, die beiden, wissen Sie? Besonders die Indianerin.«
»Uns interessiert vor allem Carol«, war Havelka mit ihren Gedanken schon woanders. Das Türschloss war nicht beschädigt, also musste sie die Täter gekannt haben. Oder die Männer hatten sich den Zugang mit einem Trick verschafft. »Wie war sie angezogen?«
Kevin Gruber dachte nach. »Jetzt, wo Sie’s sagen, Lieutenant. Sie war ziemlich aufreizend angezogen. Als ob sie ausgehen wollte … in einen Club oder so. Silberfarbener Pullover, kurzer Rock, hohe Schuhe … sehr sexy.«
»Und Sarah?«
»Die kam wohl gerade von der Arbeit. Dunkler Anorak, Jeans, Stiefel … wie immer. Und eine violette Strickmütze.«
Er interessierte sich wohl mehr für sie, als er zugeben wollte, wenn er so genau hingesehen hatte. »Wir habenleider kein aktuelles Foto von Carol«, fuhr Havelka fort. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, mit den beiden Officers aufs Revier zu fahren und sie unserem Zeichner zu beschreiben?« Sie sah, dass er zögerte. »Es dauert nicht lange. In einer Stunde sind Sie zurück.«
»Aber Toby … mein Hund.«
»Den können Sie mitnehmen«, sagte sie zur Überraschung der Uniformierten. »Die Officers bringen Sie hin und zurück.« Sie wandte sich an Colby, weil sie ahnte, wie schlecht er auf den Hund zu sprechen war. »Nicht wahr, Officer?«
»Natürlich, Lieutenant.«
Havelka verabschiedete die Cops und den Zeugen und betrat Sarahs Schlafzimmer. Auf dem Nachttisch neben dem Bett lag ein Buch über die Anishinabe. Sie überflog den Klappentext und erfuhr, dass »Anishinabe« der indianische Name für »Ojibway« war. Von dem Stamm hatte sie schon gehört.
In der obersten Schublade der Kommode fand sie die Unterlagen, die Dexter erwähnt hatte. Sie nahm die Mappe mit den Briefen und Fotos heraus und setzte sich auf das ordentlich gemachte Bett. Die meisten Briefe waren geschäftlich. Eine längere Korrespondenz mit einem Professor, der offensichtlich keine E-Mails mochte, mehrere Ausdrucke von E-Mails anderer Professoren, einige Rechnungen von Amazon und kleinen Verlagen, alles Fachbücher über die Anishinabe, aber auch über die Irokesen, der Entwurf für einen Werbetext über die geplante Ausstellung »Mythen und Legenden der Anishinabe« im Field Museum of Natural History. Nichts, was Havelka weitergebracht hätte. Als Assistant Curator in einem Museum war es normal, solche Unterlagen und Briefe zu besitzen.
Eine Plastikhülle mit Zeugnissen undEmpfehlungsschreiben war schon aufschlussreicher. Der Brief eines Professors am College in Rochester, der sie als Kuratorin für einschlägige Museen empfahl. Das Empfehlungsschreiben eines Museums in Oneida. Eine Broschüre über die Oneida Reservation und eine Karte der Umgebung. Wozu brauchte sie eine Landkarte des Reservats, wenn sie dort aufgewachsen war?
Auch die Fotos waren nicht besonders aufschlussreich, meist Schnappschüsse von Pow-Wows. Nur eines weckte ihre Aufmerksamkeit. Es lag versteckt in einem Umschlag und war offensichtlich älter als die anderen Aufnahmen. Fünf bis sechs Jahre, nach der Kleidung der abgebildeten Mädchen
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