Winterkill
des roten Warnlichts und das Läuten auf.
Mehrere Minuten vergingen, bis die Anspannung von Ethan abfiel und er sich von seiner Panik erholte. Er öffnete das Fenster und holte tief Luft, genoss die Kühle der Schneeflocken auf seiner Stirn. Am liebsten wäre er ausgestiegen, um sich vollkommen dem Wind und dem Schnee auszusetzen, doch die Angst, dass seine Knie nachgeben würden, war zu groß. So schwach hatte er sich selten gefühlt.
Immer noch benommen von dem albtraumhaften Erlebnis wendete er den Wagen. Über die dunkle Seitenstraße fuhr er zur Wabash Avenue zurück. Aus einem unerfindlichen Grund lenkte er sein Taxi nach Süden, als wüsste er, dass sich Sarah dort versteckte. Er suchte sie immer noch. Er würde so lange durch die Stadt fahren, bis er sie gefunden hatte. So blöde und kitschig das klang, aber ein Leben ohne sie konnte er sich nicht mehr vorstellen.
Sein Atem ging ruhiger, und die Wärme, die aus der Heizung strömte, kroch langsam in seinen Körper zurück.Wärme war etwas Wundervolles, besonders wenn man gerade dem Tod und dem frostigen Atem eines Ungeheuers entronnen war.
Als angehender Arzt glaubte er nicht an den Wendigo, suchte er sogar nach seiner albtraumhaften Erfahrung nach einer plausiblen Erklärung. Sein wissenschaftlich geprägter Verstand wollte nicht hinnehmen, dass ein Ungeheuer, das nur in Legenden und Liedern existierte, die Kontrolle über ihn gewonnen hatte. Er war nicht schizophren, niemand in seiner Familie war jemals geisteskrank gewesen. Er hatte niemals halluziniert, niemals mit Drogen experimentiert, nicht mal einen Joint hatte er sich gegönnt. Manche Leute warfen ihm sogar vor, dass er zu nüchtern war, der geborene Wissenschaftler und Arzt eben, der nur etwas glaubte, wenn es einen eindeutigen Beweis gab. Da hatte er Sarah noch nicht gekannt.
Vielleicht hatte er zu viel gearbeitet. Die vielen Vorlesungen, die Seminararbeiten, die Recherche in der Bibliothek, die Gespräche mit Professoren und Ärzten. Die langen Stunden in seinem Taxi, damit er das Geld für das Studium zusammenbekam. Selbst wenn er Tag und Nacht ackerte, blieben noch genug Schulden übrig. Burn-out-Syndrom, Kreislauf-Kollaps, die Aufregung wegen Sarah und der Killer … für seinen Zusammenbruch auf den Schienen konnten mehrere Faktoren verantwortlich sein. Er brauchte Ruhe, das war alles, ein ruhiges und geordnetes Leben. Er brauchte einen Menschen, der zu ihm hielt. Eine Freundin wie Sarah.
Er war immer etwas zielstrebiger als seine Kollegen gewesen. Aber er war auch mit ihnen um die Häuser gezogen, besonders nach einer gut benoteten Arbeit, und auch mit Mädchen hatte er sich vergnügt. Die hübsche Krankenschwester aus der Intensivstation hatte er bis heute nichtvergessen. Aber er hatte die Zukunft niemals aus den Augen verloren und immer eine feste Vorstellung von seinem Leben gehabt.
Sicher waren seine Eltern an dieser Ernsthaftigkeit schuld. Sein Vater war Tierarzt in der Nähe von Springfield, südlich von Chicago. Seine Mutter half ihm in der Praxis. Ein Vermögen hatten sie nicht damit verdient, jedenfalls nicht genug, um ihm sein Studium zu finanzieren. »Ich habe zwei Jahre auf einer Farm gearbeitet, bis ich so viel Geld zusammenhatte, um mir eine eigenes Zimmer zu leisten«, hatte sein Vater gesagt, »und deine Mutter hat bei Walmart kassiert. Wenn wir es geschafft haben, schaffst du es erst recht.« Sie hatten ihm dreitausend Dollar zu Weihnachten geschenkt, genug Geld, um sich an der angesehenen Uni in Chicago einzuschreiben. Mehr war nicht drin gewesen, und mehr hatte er auch nicht verlangt. Er wollte es selbst schaffen. Seine Eltern sollten ihr Leben genießen, ihr kleines Haus, den kurzen Winterurlaub in Fort Lauderdale, den sie sich jedes Jahr nach Thanksgiving leisteten.
Er hielt vor einer roten Ampel und blickte in das stürmische Schneetreiben hinaus. Chicago konnte ungemütlich sein, ein hartes und unnachgiebiges Pflaster, das einem schnell die eigenen Grenzen aufzeigte. Im Grunde, dachte er, ging es ihm nicht anders als Sarah. Auch er war aus einem unbedeutenden Nest in die große Stadt gekommen. Während der ersten Monate war er sich verloren zwischen den Wolkenkratzern vorgekommen. Für einen Jungen aus Springfield, Illinois, war Chicago die große Welt, ein anderer Planet, auf dem man es entweder schaffte oder zugrunde ging. Er würde es schaffen, das wusste er inzwischen.
Die Ampel schaltete auf Grün und er fuhr langsam weiter. Die Killer durften Sarah nicht
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