Winterkrieger
Zauberei.
Dagorian hatte noch nie in seinem Leben solche Angst gehabt. Er hatte keinen Plan, außer ins älteste Viertel der Stadt zu gehen. Hier konnte er sich unter den vielen Armen und Obdachlosen verstecken, den Bettlern und Dieben, Huren und Taschendieben. Es war das am dichtesten bevölkerte Viertel, mit schmalen Straßen und gewundenen Wegen, dunklen Gassen und schattigen Durchgängen.
Es war kurz vor Mitternacht als Dagorian sich im Eingang eines alten Lagerhauses niederlegte. Er war entsetzlich müde und nahezu verzweifelt.
Eine Gestalt tauchte aus den Schatten auf. Dagorian stand auf, eine Hand am Messer.
Im Mondschein konnte er erkennen, dass der Mann kein Mörder, sondern ein in Lumpen gekleideter Bettler war. Der Mann näherte sich ihm vorsichtig. Er war schrecklich dünn, und sein hageres Gesicht war von vielen alten Narben bedeckt. »Eine Kupfermünze für ein unglückliches Kriegsopfer?«
Dagorian entspannte sich und wollte gerade in seinen Beutel greifen, als der Mann mit einem rostigen Messer in der Hand lossprang. Dagorian wich aus, wehrte den Messerarm ab und landete eine rechte Gerade am Kinn des Bettlers. Der Mann krachte schwer gegen die Tür des Lagerhauses und prallte mit dem Kopf gegen den hölzernen Türrahmen. Dagorian entwand ihm das Messer und warf es zur Seite. Der Mann sank auf die Knie.
»Gib mir deine Kleider«, befahl der Offizier und zog Umhang und Hemd aus.
Der Mann blinzelte im Mondschein und starrte den Drenai völlig verständnislos an. »Deine Kleider, Mann. Ich brauche sie, dafür bekommst du diesen schönen Mantel.«
Langsam schälte sich der Bettler aus dem zerlumpten Mantel und dem schmutzigen Hemd, das er darunter trug. »Und deine Schuhe«, sagte Dagorian. »Du kannst deine Hosen anbehalten. Ich glaube, ich würde lieber hängen als sie anziehen.« Der Körper des Mannes war im Mondschein weiß wie ein Fisch, Brust und Rücken von vielen Narben überzogen – Spuren vieler Peitschen.
Der Offizier zog die Kleider an, dann setzte er sich und zog die Stiefel an. Sie waren aus billigem Leder, die Sohlen dünn wie Papier.
»Du bist der, den sie suchen«, sagte der Bettler plötzlich. »Der Mörder.«
»Das erste stimmt«, antwortete Dagorian.
»Du gehst nicht als Bettler durch. Du bist zu sauber. Frisch geschrubbt. Du musst dich für ein paar Tage bedeckt halten, bis dein Haar fettig wird. Und sieh zu, dass deine Fingernägel schmutzig werden.«
»Angenehme Vorstellung«, erwiderte der Drenai. Doch er wusste, dass der Mann recht hatte. Er sah den Bettler an, der keinen Versuch machte sich anzuziehen, trotz der nächtlichen Kälte. Er wartet darauf, dass ich ihn töte, dachte Dagorian plötzlich. Und das sollte ich auch tun. »Zieh dich an und sieh zu, dass du fortkommst«, sagte er.
»Bist wohl nicht sehr helle, was?« fragte der Bettler, zog das schöne blauwollene Hemd an und grinste mit breiten Zahnlücken.
»Wäre es dir lieber, wenn ich dir die Kehle durchschneide?«
»Darum geht es nicht, Junge. Es geht ums Überleben. Trotzdem, ich bin dir dankbar.« Der Bettler stand auf und schwang sich den schwarzen Umhang um die dünnen Schultern. »Du solltest dir lieber Gedanken um ein Versteck machen. Wenn du ihnen ein paar Tage entgehen kannst, werden sie glauben, dass du nicht mehr in der Stadt bist. Dann kannst du dich wieder bewegen.«
»Ich kenne die Stadt nicht«, gestand Dagorian.
»Dann viel Glück«, meinte der Bettler. Er nahm die Stiefel in die linke Hand, ging zu seinem Messer und hob es auf. Dann war er verschwunden.
Dagorian ging weiter und huschte in eine dunkle Gasse. Der Bettler hatte recht. Er brauchte einen Platz, an dem er sich verstecken konnte. Aber wo konnte man sich vor der Macht der Zauberei verstecken?
Er fühlte Panik in sich aufsteigen und unterdrückte sie. Der Weiße Wolf hatte ihn vieles gelehrt, aber am wertvollsten war die Lektion, immer kühlen Kopf zu bewahren, wenn man in Gefahr war. ›Denk schnell, wenn es sein muss – aber denke immer!‹ Dagorian holte tief Luft und lehnte sich gegen eine Mauer. Denk nach! Wo können die Kräfte der Zauberei in Schranken gehalten werden? In einem heiligen Tempel. Er überlegte, ob er zu einer der vielen Kirchen gehen sollte, aber dazu musste er um Asyl bitten. Die Gebäude mochten heilig sein, aber er würde sein Leben in die Hände der Mönche legen. Und – selbst wenn sie ihn nicht verrieten – würde er ihr Leben aufs Spiel setzen. Nein, das ging nicht. Wo aber dann? Im Hause
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