Winterland
sein.
Winter wusste, dass der größte Teil aller Gewalttaten von Familienmitgliedern begangen wurde. Von den Lieben. Manchmal hatte er schon gedacht, dass das Leben als Eremit in einer Grotte an einem geheimen Ort der einzige Weg wäre, Leib und Leben zu schützen und richtig sicher zu sein. Das war kein angenehmer Gedanke.
»Wie ist er denn reingekommen?«, fragte Kriminalinspektor Fredrik Halders.
»Der Mörder? Der, der sie erdrosselt hat? Er ist nicht eingebrochen, so viel ist sicher.«
Es war Morgen. Einmal werden wir noch wach, hatte Winter gedacht, als er über den Heden gegangen war und die ersten Sonnenstrahlen auf dem frisch gefallenen Schnee gesehen hatte. Es war ein glitzernder Morgen.
Im Konferenzraum roch es nach Kaffee. Winter wusste, dass er selbst noch nach Alkohol roch, aber das würde sich legen. Er hatte sein Versprechen gehalten und zum Frühstück einen Glögg getrunken, doch nur zwei Fingerbreit.
»Er hatte einen Schlüssel«, sagte Winter. »Oder sie hat ihn reingelassen.«
»Woher wissen wir denn, dass es ein Er ist?«, fragte Kriminalinspektorin Aneta Djanali und sah sich um.
»Du treibst ja die Gleichstellungsfrage in ganz neue Höhen«, scherzte Halders.
»Es gibt tatsächlich auch Mörderinnen«, entgegnete Aneta Djanali.
»Wir Männer dürfen aber auch gar nichts für uns haben«, sagte Halders.
»Was sagt Pia über die Verletzungen?«, fragte Aneta Djanali und blickte zu Winter.
»Sie wurde brutal ermordet. Da hat jemand große Kraft eingesetzt«, sagte Winter.
»Also ein Mann«, fügte Aneta Djanali hinzu.
»Das glauben wir jedenfalls«, sagte Winter.
»Das ist doch offenbar«, meinte Halders.
»Hier ist gar nichts offenbar«, hielt Winter ihm entgegen.
»Du riechst nach Alkohol«, sagte Halders.
»Du riechst nach Achselschweiß«, sagte Winter.
»In Ermangelung von Schnaps«, erwiderte Halders.
»Glögg«, sagte Winter, »Branntweinglögg.«
»Darf man das Rezept erfahren?«, fragte Halders.
»Wenn du dir ein Deodorant kaufst.«
Bertil Ringmar, der an der Schreibtafel stand, räusperte sich. Halders und Winter wandten sich zu ihm um.
»Wir werden also Susanne Balkers Privatleben in Augenschein nehmen müssen«, sagte Ringmar.
»Nicht nur das Privatleben«, erwiderte Aneta Djanali.
»Der Mord könnte doch auch mit etwas oder jemandem an ihrem Arbeitsplatz zusammenhängen, oder?«
Ringmar nickte.
»Er kann auch mit ihm zusammenhängen«, sagte Halders, »Anders Balker.«
»Wie meinst du das?«, fragte Winter.
»Tja, vielleicht ist er ja nicht direkt verwickelt, vielleicht war jemand hinter ihm her und tauchte dann dort auf, und weil er nicht da war, musste seine Frau büßen.«
Niemand sagte etwas.
»Ist ja nur ein Gedanke«, entschuldigte sich Halders.
»Der erste heute Morgen?«, fragte Aneta Djanali.
»Ja, aber nicht der letzte!«, rief Halders und lächelte.
Ringmar räusperte sich wieder.
»Ihr habt ja gehört, was Bertil gesagt hat«, sagte Winter.
»Wir werden uns ihr Leben anschauen müssen. Seines und ihres. Bis zum heutigen Tag. Arbeitskollegen. Freunde. Bekannte. Bekannte von Bekannten.«
»Bekannte von Bekannten von Bekannten«, stöhnte Halders.
Es sollte sich bald erweisen, dass Halders Recht hatte. Sie suchten lange und immer länger nach Leuten, mit denen Anders und Susanne Balker in Kontakt gestanden hatten. Sie fanden keine Freunde, zumindest nicht gleich. Und der Begriff »Freunde« war ja eine Definitionsfrage. Die Balkers waren ein einsames Paar gewesen.
Sie klopften an Türen und redeten mit allen, die in dem großen Haus wohnten, aber niemand kannte sie näher, wenn überhaupt. Hatten sie denn wenigstens einander gehabt?, fragte sich Winter in den folgenden Tagen ein ums andere Mal. Im Laufe der Zeit sollte er auch noch andere Entdeckungen über die dunklen Verbindungen der Menschen zueinander machen.
Früh am Nachmittag kam Aneta Djanali zu Winter, der gerade am Waschbecken stand und sich die Hände mit heißem Wasser wusch.
»Ich habe gefroren«, sagte er.
»Ich habe mit der Hoteldirektion in Puerto Rico gesprochen«, sagte Aneta Djanali.
»Da ist es ja wahrscheinlich warm jetzt«, meinte Winter.
»Siebenundzwanzig Grad«, antwortete Aneta Djanali.
»Und was hat er gesagt?«
»Sie.«
Winter lächelte und dachte an den kleinen Schlagabtausch zwischen Halders und Aneta heute Morgen.
»Was hat sie gesagt?«, fragte er.
»Ich habe sie nach Balker gefragt, wie besoffen er war und so. Ob er die ganze Zeit auf
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