Winterlicht
Spur nachzogen. Und dann sah er ihn. Er war klein und über die Jahre verblasst. Isaboes blutiger Handabdruck.
Sie streckte langsam die Hand aus und legte sie über den Abdruck, presste ihre Handfläche gegen den kalten Stein. Mit zitternden Händen zog er sein Messer aus der Scheide.
„Ich werde dich hier schneiden müssen“, sagte er und küsste sanft ihre Handfläche. „Kam das Blut auch noch aus einer anderen Wunde?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich hatte wenig Blut an mir, bis ich zurückging, um Balthasar zu begraben. Welcher Mensch würde seinen geliebten Bruder den Fängen eines wilden Tieres überlassen?“
„Ein schlauer, meine Königin.“
Sie nahm sein Gesicht in ihre Hände. „Weißt du, was Balthasars letzte Worte waren? ,Finde Finnikin von den Felsen. Er wird wissen, was zu tun ist.‘ Aber ich konnte dich nicht finden. Ich konnte dich so lange nicht finden.“
Liebevoll wischte er ihre Tränen weg. „Wenn es beginnt, schau nicht weg. Sieh in meine Augen. Erinnere dich an mein Gesicht, wenn du dich im Zwischenreich wiederfindest. Um von dem Ort zurückzukehren, an den uns die Göttin führen wird, lass dich von mir leiten.“
Sie nickte. „Sag meinen Namen!“, bat sie leise.
„Isaboe“, flüsterte er. Seine Lippen waren ihren ganz nah. „Isaboe.“
„Verzweifle nicht in der Dunkelheit, Finnikin. Es ist meine Verzweiflung, die du spürst. Aber ich habe niemals zugelassen, dass sie mich überwältigt, also lass auch du dich nicht davon verzehren.“
So vorsichtig, wie er konnte, zog er die Spitze seines Dolches quer über ihre Handflächen und dann über seine.
„Erzähl mir von dem Bauernhof“, bat sie, während die ersten Blutstropfen auf ihren Händen erschienen.
„Von welchem Bauernhof?“
„Von dem Bauernhof, auf dem Finnikin der Bauer mit seiner Braut lebte.“
„Ihr Name war Evanjalin. Hatte ich das erwähnt?“
Sie lachte und weinte gleichzeitig. „Nein, das hattest du nicht.“
„Sie säten Weizen und Gerste und jeden Abend saßen sie unter den Sternen, um ihren Besitz zu bewundern. Oh, und sie stritten sich. Sie wollte das Geld, das sie verdient hatten, für ein Pferd ausgeben. Er war dagegen der Meinung, dass sie eine neue Scheune brauchten. Doch schnell hatten sie ihren ganzen Ärger vergessen und er hielt sie ganz fest und wollte sie niemals wieder loslassen.“
„Und steckte er ihr Ringelblumen ins Haar?“, fragte sie.
Er drückte ihre Hände gegen seine und sah, wie das Blut zwischen ihren Handflächen hindurchsickerte. „Und er hörte nie auf, sie zu lieben, bis zum Tag seines Todes“, sagte er. Er legte seine andere, ebenfalls blutige Hand auf den Abdruck an der Mauer.
Sie hatten sich niemals ausgemalt, was in diesem Moment geschehen würde. Würde sich das Tor öffnen und Lumatere aus dem Nebel aufsteigen? Würde die Dunkelheit vor ihren Augen verschwinden und der blaue Himmel sie in ihrer Heimat willkommen heißen? Doch Finnikin blieb nur ein kurzer Moment für solche Gedanken, denn jetzt begann der Boden unter ihren Füßen zu beben und er wurde eins mit dem Nebel. Die düsteren Schwaden drangen in seinen Körper ein und vergifteten ihn. Und so hörte er die Schreie all jener, die während der Fünf Tage des Unsagbaren ihr Leben verloren hatten, er hörte die Opfer des Massakers in Sarnak und die Sterbenden in den Lagern. Er blickte in jeden Traum, den auch die Novizin Evanjalin belauscht hatte. Nicht nur in die Träume der Unschuldigen, sondern auch in die Träume der Feinde innerhalb der Mauern: Er sah die Gedanken der Mörder, Vergewaltiger und Folterknechte. Bis das Gesehene seinen Verstand ausschaltete und ihn mit Zorn erfüllte. Und jedes Mal, wenn er dachte, er könnte das alles nicht länger ertragen, war sie da. Er spürte si e – in seinem Inneren. Sie nahm die Dunkelheit seines Herzens in sich auf, bis sie beinahe davon verzehrt wurde und vor seinen Füßen zusammenbrach.
Da hörte die Erde auf zu beben und das Tor stand offen. Finnikin hörte das Kriegsgeschrei der Garde, als die Pferde an ihm vorbeidonnerten. Doch Lumatere stand schon in Flammen. Die Stille, die er tief drinnen in seiner Seele gehört hatte, wich einem betäubenden Brausen, während er mit Isaboe auf den Armen in die Flammenhölle stolperte.
Kapitel 25
F innikin wankte von der Straße, die zum Palast führte, und trug die Königin zu einer Brücke, über die sie zu einer Wiese gelangten. Er musste sie hinlegen, damit er sie beatmen konnte, und er wollte
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