Winterlicht
war.
Vom oberen Stallfenster aus hielt Sir Topher Ausschau. Die Novizin stand am Tor vor der verlassenen Kate. Er wusste, sie würde so lange warten, bis der Mond aufging, so wie jeden Tag seit Finnikins Gefangennahme.
„Sie werden kommen“, sagte sie, als er sich zu ihr gesellte.
„Und wenn nicht?“, fragte er. „Ich verstehe, was du vorhast. Aber damit setzt du Finnikins Leben aufs Spiel.“
„Der Hauptmann wird nicht zulassen, dass seinem Sohn etwas zustößt.“
„Manchmal können Väter ihre Kinder nicht beschützen, Evanjalin. Deinem Vater ist es doch auch nicht gelungen, nicht wahr?“, fragte Sir Topher, wohl wissend, wie grausam diese Bemerkung war.
„Nein“, erwiderte sie heftig. „Aber mein Vater hat mich immer gewarnt: ‚Bereite dich stets auf das Schlimmste vor, mein liebes Kind, denn es wohnt Tür an Tür mit dem Besten.‘ Und für diesen Rat bin ich ihm immer dankbar gewesen.“
Finnikin verbrachte die ersten Tage im Gefängnis damit, sich an die Gegebenheiten dort zu gewöhnen. Ihm war klar, dass er zuallererst seinen Verstand und nicht seine Fäuste gebrauchen musste, wenn er überleben wollte. Die anderen Häftlinge glotzten ihn noch genau so an wie bei seiner Ankunft, aber sie ließen ihn in Ruhe, und er wusste auch genau warum. Trevanion war wie ein wildes Tier, dem man die Ketten abgenommen hatte, und alle, auch die Wachen, hüteten sich, ihm zu nahe zu kommen.
„Du arbeitest in dieser Woche im Freien“, teilte der Wachmann Trevanion mit, als er die beiden zurück in die Zelle brachte.
Trevanion packte Finnikin und stieß ihn direkt vor die Nase des Wärters.
„Der bleibt da“, erklärte der Mann tonlos. Er fand nicht ganz so viel Vergnügen an dieser Quälerei und hatte deshalb noch etwas Menschliches an sich.
Aber Trevanion rührte sich nicht vom Fleck und hielt seinen Sohn mit eisernem Griff fest. Er schüttelte ihn vor den Augen des Wärters. Finnikin kam sich vor wie eine Lumpenpuppe, wie ein Spielzeug, das sich gegen grobe Behandlung nicht wehren kann.
„Darauf lasse ich mich nicht ein“, sagte der Wachmann mürrisch.„Der Gefangene aus Osteria hat dem Übersetzer aus Belegonia die Zunge rausgeschnitten. Und niemand hier beherrscht beide Sprachen. Ich kann mir keine weiteren bösen Überraschungen leisten.“
„Ich kann fünf Dialekte“, sagte Finnikin ruhig auf Sorelisch, obwohl er alles andere als gelassen war. „Ich werde übersetzen.“ Trevanion wollte ihn wegzerren, aber Finnikin baute sich vor dem Wachmann auf. „Ich spreche sechs Sprachen“, sagte er und wiederholte diesen Satz in fünf weiteren Sprachen.
Der Wärter starrte erst ihn, dann Trevanion an, dann stieß er beide weiter. „Sieh zu, dass er keinen Ärger macht“, knurrte er mit zusammengebissenen Zähnen.
Als sie allein in ihrer Zelle waren, sah Trevanion seinen Sohn fragend an. „Sechs Sprachen?“
Finnikin zuckte die Schultern und ließ die Fingerknöchel knacken. „Ich habe gelogen. Es sind sogar acht. Wenn man das Grunzen der Yut dazuzählt und jene lächerlichen Geräusche, die man in Sendecane macht.“
„Wer war dein Lehrer?“, fragte Trevanion.
„Immer wenn wir auf unseren Reisen in ein neues Königreich kamen, ließ mich Sir Topher so viel wie möglich über die fremde Kultur lernen“, erklärte Finnikin. „Er meinte, nur so könne man die andern Länder dazu bringen, unser Existenzrecht anzuerkennen und uns zu helfen.“
„Was hat er dir sonst noch beigebracht?“
Finnikin verblüffte die Heftigkeit, mit der diese Frage vorgebracht wurde. „Kein Grund zur Sorge“, versicherte er. „Sir Topher hält die Kampfkunst hoch in Ehren. Bei jedem unserer Gastgeber habe ich mit der Königlichen Garde trainiert.“
„Keiner meiner Männer spricht acht Sprachen.“
Finnikin sagte nichts darauf.
„Hast du eine Ahnung, wo sich der Priesterkönig aufhält?“, fragte Trevanion nach einer Weile.
Finnikin schüttelte den Kopf. „Er versteckt sich, aber es gibt Gerüchte, wonach er sich in dieser Gegend aufhalten soll.“
„Und die Herzöge?“
„Fünf leben im Exil. Zwei sind, wie wir annehmen, in Lumatere zurückgeblieben. Drei sind tot.“
Trevanions Körperhaltung versteifte sich. „Lord Augusti n …“
„Ist am Leben. Er steht immer noch im Dienste Belegonias und hat den verrückten Plan, dich eines Tages zu befreien, damit du uns zurück nach Lumatere führen kannst. Wieso hat Botschafter Corden ihm nicht gesagt, wo du bist?“
„Vielleicht weil er
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