Winterlicht
drängte Finnikin sich durch die Menge und rief ihren Namen. Er stützte sich sogar auf die Schultern eines Mannes, um einen besseren Überblick zu haben, wurde dann aber heruntergestoßen. Er handelte sich Ellbogenknüffe und Beschimpfungen ein, während er an das Ufer zu den Flusskähnen eilte. Evanjalin hatte seine braune Wollhose angezogen und eine blaue Mütze aufgesetzt, aber in dem schwindenden Licht stachen die matten Farben nicht in die Augen. Er konnte nur hoffen, dass sie genug Verstand besaß und wieder zurück zur Taverne fand. Es war noch nicht lange her, da hatte er sich gewünscht, sie endlich loszuwerden, aber jetzt jagte ihm diese Vorstellung einen Schauer über den Rücken.
Etwas weiter weg am Ufer wurde der Dieb gerade fortgeschleppt. Hätte der Käufer ihm wenigstens ein paar Kleider gegeben, dann hätte Finnikin die Sache vielleicht sogar auf sich beruhen lassen. Aber im Fieberlager war er über den nackten Leichnam eines Jungen gestolpert, der etwa so alt gewesen war wie der Dieb. Früher, in Lumatere, waren Jungen in diesem Alter widerstandsfähige, schelmische Burschen gewesen, die die Mädchen neckten, mit denen sie aufgewachsen waren. Es waren Jungen, die nicht so recht wussten, ob sie in die Fußstapfen des Vaters treten oder doch noch ein wenig bei der Mutter bleiben sollten. Es war gegen die Natur, mit vierzehn Jahren zu sterben; Finnikin war schon viel zu oft Zeuge eines allzu frühen Todes geworden. Es ist genug, dachte er. Es ist genug.
Er folgte dem Dieb und seinem Besitzer tief in den Wald hinein. Wenn es ihm in der Nacht nicht gelänge, den Jungen zu befreien, dann könnte er ihn von seinem Elend erlösen. Es war ganz einfach, sagte er sich. Er würde die beiden überholen, ihnen den Weg abschneiden und einen Überraschungsangriff wagen. Aber dann verlor er sie im dichten Blätterwerk aus den Augen.
Er kletterte auf die nächstbeste Pinie und schaute sich um. Sein Mut begann ihn zu verlassen. Von seiner luftigen Warte aus sah er, wie der Dieb und sein Käufer auf eine Lichtung traten, wo schon ein anderer Mann ein Lager aufgeschlagen und offenbar auf sie gewartet hatte. Evanjalin hatte sich getäuscht. Der Käufer war nicht allein.
Finnikin war klar, dass er rasch handeln musste. Gerade als er wieder hinunterklettern wollte, sah er sie am Rand der Lichtung. Finnikins Messer in der Hand, sprang sie hinter einem Baum hervor und warf sich auf den Rücken des Sklavenkäufers.
Finnikin rutschte hinunter und rannte sofort los. Zwischen den Bäumen sah er sie, sah, dass sie die Oberhand gewonnen hatte. Mit den Beinen umklammerte sie die Taille des Mannes, mit der einen Hand hielt sie ihn am Nacken fest, mit der anderen schlitzte sie ihm die Brust auf. Aber es war zu spät. Der Kumpan des Käufers war schon bei ihnen. Er zerrte Evanjalin hoch, stieß ihren Kopf gegen einen Baum und verrenkte ihr den Arm, damit sie den Dolch fallen ließ.
Finnikin rannte schneller. Bitt e … Er darf nicht herausfinden, dass sie ein Mädchen ist. Bitte nicht.
Aber der Mann war schon dabei, sie abzutasten, seine Hände glitten über ihren Körper.
„Evanjalin!“
Das erste Messer erwischte den Mann im Rücken, das zweite landete kaum eine Handbreit über Evanjalins Fingern in der Baumrinde. Blitzschnell zog sie es heraus, schleuderte es rückwärts und überrumpelte ihren Gegner. Als der Mann zurücktaumelte, stieß sie ihm das Messer noch zweimal in den Schenkel und schlitzte das Bein auf.
„Lauf!“, brüllte Finnikin und warf im Vorbeirennen dem Dieb seinen Umhang zu. Während er den zweiten Mann abwehrte, nahm Evanjalin den Dieb bei der Hand und lief mit ihm tiefer in den Wald hinein. Finnikin versetzte dem Mann noch einen letzten Hieb, dann folgte er den beiden.
„Lauft weiter, schnell!“, schrie er. Vor ihm rannte der Dieb, seine Sprünge und Haken zeigten Finnikin die Unebenheiten des Bodens an.
Dann hatte er Evanjalin eingeholt. Sein Puls raste, viel zu viel Blut auf einmal schoss in sein Herz, aber Finnikin konnte nur eines denken: Er musste wieder die Führung übernehmen, er und nicht Evanjalin sollte vorausgehen. Das war ihm, wie er sich selbst eingestehen musste, wichtiger, als einen möglichst großen Abstand zwischen sich und die Verfolger zu bringen.
Sie erreichten das Ende des Pfades und rannten hinaus ins offene Gelände, wo die Sonne gerade am Ende des Tals hinter dem Horizont versank. Finnikin lief weiter neben Evanjalin, ihre Seitenblicke und das Funkeln in ihren Augen
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