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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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verschwitzt und schmutzig von der Arbeit mit dem Bohrer. Hinterrücks starrte er diese ahnungslose junge Frau an. Es erfüllte ihn mit unsäglicher Bewunderung, dass sie sich trotz ihrer offenkundigen Schwäche dazu aufgerafft hatte, voller Leidenschaft jene beredte und kräftezehrende Musik zu spielen. Sie hatte das vollbracht, was Mootfowl immer als erstrebenswert hingestellt hatte: Sie war über sich selbst hinausgewachsen. Hier, vor seinen, Peters, Augen. Sie hatte sich emporgeschwungen und war dann zurückgefallen, geschwächt, verwundbar, allein. Gern wäre Peter ihr in ihrem Höhenflug gefolgt. Wie schön sie war, halb nackt und von innen heraus glühend, als wäre sie gerade einem Bad entstiegen. In ihrer Ermattung wirkte sie fast trunken vor Hingabe. Allein schon an ihren bloßen Schultern konnte Peter Lake sich nicht sattsehen. Er war überwältigt.
    Aber wie sollte er ihr gegenübertreten? Draußen dämmerte es schon. Es kam Peter so vor, als wären Beverly und er eine Stunde lang reglos verharrt, bis er sich schließlich zu der Erkenntnis durchrang, dass sie ganz einfach unnahbar war. Ja, er durfte es nicht wagen, vor sie hinzutreten.
    Als der Wind der Frühe sanft an den Fensterläden rüttelte, machte Peter einen Schritt rückwärts. Er hoffte, sich unbemerkt davonstehlen zu können, während die junge Frau starr und stumm am Klavier lehnte. Doch dann gab das Dielenbrett, auf das er trat, einen wundersamen, gequälten, hölzernen Quietschlaut von sich, ein Geräusch, das unmissverständlich vom Gewicht eines lebendigen Wesens zeugte. Peter erstarrte. Hoffentlich hatte sie nichts gehört! Aber Beverly drehte sich langsam zu ihm um. Halb im Delirium richtete sie ihre Augen auf ihn und blickte ihn unverwandt an. In ihrem Inneren bereitete sich eine Reaktion auf das vor, was sie vor sich sah, aber äußerlich hätte niemand zu sagen gewusst, welcher Art diese Reaktion schließlich sein würde. Peter hingegen spürte, wie ihm die Schamröte ins Gesicht stieg. Er brachte kein Wort heraus. Er hatte kein Recht, hier zu sein. Schon jetzt hatte sich ein tiefgreifender Wandel in ihm vollzogen. Ein gewandter Plauderer war er nie gewesen. Er wusste nur: Sie ist halb nackt, draußen graut der Morgen – und ich liebe sie! In seiner Ratlosigkeit hob er den Fuß und klopfte damit auf das Dielenbrett, das ihn verraten hatte. Fast hätte man meinen können, dass er den Tränen nahe war.
    »Es quietscht«, sagte er und legte so viel Gefühl in diese beiden Worte, dass er sich erschrocken fragte, ob er den Verstand verloren hatte. »Es quietscht.«
    Beverly blickte auf das Klavier hinab, dann wandte sie sich wieder Peter zu. »Wie bitte?«, fragte sie mit leicht gehobener Stimme. »Was sagten Sie soeben?«
    »Nichts«, erwiderte Peter Lake. »Jedenfalls nichts von Bedeutung.«
    Beverly begann zu lachen. Zuerst klang es sehr laut, und es erinnerte sie beide daran, wie still es im Haus gewesen war. Auch Peter lachte, wenngleich höflich und vorsichtig. Da schloss sie die Augen und schlug mit einem Seufzer die Hände vors Gesicht. Noch einmal wurde sie von einem kleinen Lachanfall geschüttelt, dann war sie still. Gleich darauf wurde sie von heftigem Weinen überkommen. Sie weinte bitterlich, aber bald war alles vorüber. Als sie aufblickte, lag in ihren Augen ein Ausdruck, als hätte sie sich bis zum letzten Tropfen leergeweint. Nun schmeckte ihre Haut nach Salz.
    Die Morgensonne stand schon über dem Horizont und tauchte den Raum in ein puderzuckeriges Weiß. Ein kalter Luftzug machte sich bemerkbar.
    »Wenn du der bist, für den ich dich halte, dann will ich dich als den nehmen, der du bist«, sagte sie. Diese Worte hätten für ihn eine Kränkung bedeuten können, aber darüber schien sie sich nicht die geringsten Sorgen zu machen. Sie wusste wohl mehr über ihn als er selbst. Deshalb nickte er nur, um ihr zu zeigen, dass er verstand. Diese Begegnung hatte nicht den Anschein einer glückhaften Fügung des Himmels. Es war schwer zu sagen, was hier vorging. Jedenfalls fühlte sich Peter zum ersten Mal im Leben als das, was er tatsächlich war, und er war davon nicht entzückt. Er wusste nur, dass er sie trotzdem am liebsten in die Arme genommen hätte. Aber das kam wohl nicht infrage an diesem Morgen, der den Raum mit immer weißerem Licht füllte.
    Unten im Keller sprang die automatische Heizung an. Das ganze Haus, das in seiner Beschaffenheit etwas von einem Schiff hatte, erbebte kaum merklich. Beverly und Peter vernahmen

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