Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
Vom Netzwerk:
und warm wie früher. Nichts hat sich geändert.
    Aber es hatte sich doch etwas geändert – oder es bahnte sich eine Veränderung an. Alles war in stetigem Wandel begriffen, alles, was er liebte, änderte sich ständig. Der einzig tröstliche Gedanke angesichts dieses unablässigen Auf und Ab, dieser fortwährenden Neuordnung aller Dinge war, dass sich ein Sinn dahinter verbarg, obwohl Peter kein Grundmuster zu erkennen vermochte. Könnte er doch nur ein einziges Mal die große Gleichung erkennen, das fein abgestimmte, universale Gleichgewicht, dann würde er wissen, dass alles darin aufgehoben ist, dass sich eines Tages der Vorhang über der Welt heben wird, um eine sonnige, frühlingshafte Stille zu enthüllen. Nichts, absolut nichts wäre vergeblich gewesen, nicht die Leiden all der Kinder, deren Elend er gesehen hatte, nicht die Agonie des einen Kindes, dem er damals in jenem Treppenhaus begegnet war, und auch nicht die Liebe, die mit dem Tod endet – nichts! Peter zweifelte, ob ihm jemals auch nur ein flüchtiger Blick auf das Walten eines höheren Sinnes vergönnt sein sollte. Innerlich war er nicht darauf vorbereitet, den einen Augenblick ungetrübter Gerechtigkeit zu erleben, in dem sich die alte Legende erfüllen und der Wolkenwall sich in Gold verwandeln würde.
    In warme Felle gehüllt, lag er in seiner Hütte und starrte durch die offene Tür unverwandt auf Manhattan, das sich jenseits der weißen, gefrorenen Bucht erhob. Zwanzig Jahre hatte er in der Stadt zugebracht, die dort drüben über den Wolken zu schweben schien. Längst kannte er das innere Wesen dieser grauen und roten Wand aus Stein. Ihm waren die Klänge vertraut, die dieser Stadt entströmten, der Lärm ihrer Maschinen und das planvolle Gewirr ihrer Straßen. Auch die Brücken waren ihm kein Geheimnis, mochten sie noch so groß sein. Er wusste, wie die neuen Wolkenkratzer gebaut wurden. Sie wurden von Menschen errichtet, die der Mechanik kundig waren, und er war einer von ihnen. Zwanzig Jahre lang hatte er in den Straßen jener Stadt gelebt, und er hatte dieses Dasein geliebt. Er war kundig, er war ein Vertrauter. Und dennoch: Aus der Ferne wirkte die Stadt an diesem klaren Tag im Sonnenglanz wie etwas völlig Unbekanntes.
    Es war leicht, sich in solchen lebhaften Erinnerungen an diese Stadt zu verlieren. Bilder von einst bestürmten ihn mit einer Wahllosigkeit und Kraft, die an das bunte Gewimmel in den Straßen erinnerte. Doch aus dem Gewoge der Formen und Farben lösten sich auch heitere Bilder von sanfter Beredsamkeit, bunt und glänzend wie Miniaturen aus Email. Peter freute sich, dass sie in seinem Gedächtnis auferstanden.
    Die Familie eines südamerikanischen Granden hatte an einem Sommertag eine Spazierfahrt durch den Park unternommen. Die vier Kutschen wurden von Pferden gezogen, die so grau waren wie der November, und die Besucher wirkten so, als wären sie an ein anderes Leben in einem wilden, weiten Land voller Sonne und Tiere gewöhnt. Während der Fahrt in den lackglänzenden Kutschen trugen sie sich wie Edelleute. Die Frauen waren verführerischer als spanische Tänzerinnen in der Ekstase; Sex umgab ihre Haut wie eine metallisch glänzende Aura. Aber da war auch ein würdevolles älteres Paar mit Augen, aus denen die Weisheit der Jahre sprach, und mit Haar, das weißer als der unbedruckte Rand einer Briefmarke war. Peter hatte Neid empfunden, als sie näher kamen. Zwar kannten sie nicht die Stadt, aber manches an ihnen deutete darauf hin, dass sie an einem anderen Ort zu herrschen gewohnt waren. Aus nächster Nähe erkannte Peter, dass neben dem Fahrer der ersten Kutsche ein Kretin oder Schwachsinniger saß – vielleicht ein Sohn, Bruder oder Enkel der Leute, die im Inneren der Kutsche saßen. Er war gekleidet wie die anderen, aber seine Augen standen vor, und er grinste ständig ohne ersichtlichen Anlass. Sein Haar ähnelte einem Pelz, und seine Gliedmaßen baumelten schlaff herab. Von Zeit zu Zeit erhob sich die alte Dame von ihrem Platz, stützte sich mit einer Hand auf und tätschelte ihn wie einen Hund. Vorn auf dem Kutschbock sitzen zu dürfen musste für ihn ein großes Erlebnis sein. Den anderen Familienmitgliedern schien es nicht das Geringste auszumachen, dass ihm das Schicksal so übel mitgespielt hatte. Im Gegenteil – ihnen kam dieser Umstand wohl sogar zupass, ähnlich wie die Segel eines Bootes bei frischem Wind des Kieles bedürfen, der tief unten blind durch die dunklen Fluten pflügt. Er war einer der

Weitere Kostenlose Bücher