Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
Vom Netzwerk:
Als Peter Lake das Wort an sie richtete, bediente er sich ihrer zeremoniellen Ausdrucksweise. Da erkannten sie ihn und senkten die Speere.
    Peter versorgte den Hengst immer selbst, denn er liebte ihn. Während er ihm in dem schilfgedeckten Stall zwischen zwei riesigen Apfelschimmeln ein warmes Plätzchen für die Nacht herrichtete, schwang die Tür auf, und Humpstone John trat ein. Er blinzelte, aber als sich seine Augen an den hellen Schein der Stalllaterne gewöhnt hatten, machte ihn das, was er vor sich sah, vor Staunen sprachlos. Aber da er ein Mann war, der häufig die Gegenwart großer Dinge empfand, war dies nichts Ungewöhnliches. Sein Blick fand den weißen Hengst und verriet den Ausdruck äußerster Beglückung. Peter Lake vermeinte, in seinen Augen die Freude über einen wiedergefundenen Freund lesen zu können, aber er sah auch, dass diese Freude nicht ihm galt.
    Der Hengst schnaubte. Er kannte den alten Humpstone nicht, das war klar.
    »Wo hast du ihn her?«, erkundigte sich Humpstone bei Peter auf Englisch.
    »Ich habe ihn … nun ja, ich habe ihn …«
    »Na sag schon, wo hast du ihn her?«
    »Eigentlich habe ich ihn nirgendwo her. Er war einfach da.«
    »Wo?«
    »Im Battery Park. Weißt du, es hätte mich fast erwischt. Die Short Tails waren hinter mir her, und ich stürzte. Als ich mich aufrichtete, konnte ich nicht mehr laufen. Jetzt ist alles aus, sagte ich mir. Und dann kam er von …«
    »… von links.«
    »Ja, von links«, bestätigte Peter. »Woher weißt du das?«
    »Hast du ihm schon einen Namen gegeben?«, wollte Humpstone John wissen.
    »Nein.«
    »Du weißt also nicht seinen Namen?«
    »Nein, wie sollte ich auch.« Peter dachte kurz nach. »Er kann springen, mein Gott, kann er springen! Die Dead Rabbits wollten ihn mir abkaufen und ihn in einem Zirkus auftreten lassen.« Peters Stimme wurde leiser. »Er kann vier Häuserblocks weit springen, John!«
    »Na und? Mich wundert das nicht.«
    »Du weißt über ihn Bescheid! Wie ist das möglich?«
    »Peter Lake, zuerst dachte ich, dass dein Kommen nichts Gutes bedeutet, und vielleicht stimmt das ja auch. Als wir dich damals ganz allein über den Fluss schickten, hatte ich wenig Hoffnung, dass du dich da drüben an jenem Ort anständig durchs Leben schlagen könntest.« Bei den Worten »an jenem Ort« lag in seiner Stimme all der Abscheu, den die Sumpfmänner für die Stadt empfanden. »Ich dachte, du hättest uns für immer verlassen und würdest einer von ihnen werden.«
    »So ist es auch«, sagte Peter.
    »Ja, mag sein, aber das ist noch nicht alles.«
    »Wie meinst du das?«
    »Erinnerst du dich an die zehn Gesänge?«
    »Ja.«
    »Und weißt du auch noch, dass wir mit dreizehn Jahren anfangen, sie zu lernen, alle zehn Jahre einen?«
    »Ja, aber ich habe nie einen gelernt.«
    »Weil wir dich vorher weggeschickt haben, Peter Lake! Der erste Gesang handelt von der richtigen Gestalt der Welt. Es ist der Gesang der Natur. Es geht in ihm um Wasser, Luft, Feuer und dergleichen. Ich kann ihn dir nicht vorsingen, denn er ist mir entfallen. Den zweiten Gesang, den man bei uns mit dreiundzwanzig lernt, den kann ich dir hersagen. Er handelt von den Frauen. Aber der dritte, Peter Lake, der dritte ist Athansors Gesang.«
    »Athansor?«
    »Ja«, sagte Humpstone John. »Athansor – der weiße Hengst!«
    Am nächsten Morgen, als es aufgehört hatte zu schneien und der Himmel wieder zu einem frostklaren Kristall geworden war, kamen aus allen Himmelsrichtungen die Sumpfmänner herbeigeströmt, um Athansor zu sehen – genauer gesagt alle Sumpfmänner, denen der Gesang vom weißen Hengst geläufig war. Peter Lake fragte sie vergeblich, was es mit diesem Gesang auf sich habe. Schweigend bestaunten sie den weißen Hengst, der nicht gewusst hatte, dass er eigentlich Athansor hieß. Doch schon gegen Mittag hatte er sich mit diesem Namen angefreundet. Peter hingegen war verärgert, denn er wollte wissen, womit er »sich herumtrieb«, wie er es selbst ausdrückte. Aber schon bald hörte er auf sich zu wundern, denn er begriff, dass ihm niemand etwas sagen würde. Einen Sumpfmann zum Reden zu bringen war schwerer, als eine tote Auster zu öffnen. Peter ging zu seinem weißen Hengst, um ihm beruhigend zuzureden, und empfand es dabei selbst als tröstlich, dass die plötzliche Berühmtheit des Pferdes und auch dessen neuer Name im Grunde nichts bedeuteten. Es ist ohne Belang, sagte er sich. Mein weißer Hengst ist derselbe wie zuvor, seine Nüstern sind genauso weich

Weitere Kostenlose Bücher