Wintermörder - Roman
ist zeilengerade, doch bei den Umschaltungen verrutschen die Großbuchstaben. Sie sehen das bei dem ersten Wort des Zitats sehr deutlich.
Debet quis juri subjacere, ubi deliquit
. Sehen Sie sich das erste Wort genau an.
Debet
.«
Er deutete mit einem Kugelschreiber auf das Wort. Das
D
war minimal nach unten verschoben.
»Die Typen sind bereits sehr abgenutzt«, fuhr er fort. »Achten Sie auf die Typenkopfabsplitterung bei dem Buchstaben
T
. Der Mittelstrich rechts ist nicht voll ausgebildet.«
Er deutete auf das
T
in
debet
.
In der Tat erschien die Strichführung des Querbalkens rechts abgesplittert.
»Weiterhin fällt auf, dass das kleine
I
ein wenig nach links verschoben ist. Ansonsten sind die Typen groß, rund, geschweift. Was das Farbband betrifft, so ist es abgenutzt, das heißt, es ist bereits alt oder selten in Gebrauch. Das alles hilft, die Maschine zu identifizieren.«
»Wenn wir sie überhaupt finden«, murmelte Fischer.
»Kommen wir zu der Personengruppe«, erklärte der Experte ungerührt. »Bei dem Schreiber handelt es sich um einen Mann. Darauf weist der starke, wenn auch ungleichmäßige Anschlag. Er ist gewohnt, Maschine zu schreiben, wie der regelmäßige Gebrauch der Leertaste zeigt. Sie wird nicht mehrfach hintereinander gedrückt, nicht wahllos, auch nicht mitten im Wort. Dem Schreiber sind keine Fehler unterlaufen, obwohl es sich um einen lateinischen Text handelt. Jeder, der bereits einmal mit einer alten Schreibmaschine geschrieben hat, weiß, dass man sich leicht vertippt. Er ist vielleicht niemand, der das Zehnfingersystem beherrscht, dazu ist der Anschlag der einzelnen Buchstaben zu kräftig, aber er weiß, wo die Buchstaben liegen.«
»Mein Gott.« Fischer schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte. »Wissen wir, wie viel Papier er wegwerfen musste, bis er das Zitat korrekt abgeschrieben hatte?«
»Auch das ist eine Möglichkeit«, bestätigte George ruhig und verschränkte die kurzen Arme wieder hinter dem Rücken. Jetzt wusste es Myriam. George hatte Ähnlichkeit mit einem Uhu. Diese Vögel galten als weise. Sie sollte ihm genau zuhören.
»Was ist mit dem Papier?«, fragte Henri.
»Ein billiges Fabrikat. Schlechte Qualität. Außerdem ist es alt.«
»Wie alt?«
»Um die fünfzig Jahre, und das Alter der Schreibmaschine datiere ich in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, auch wenn der Text nicht ausreichend ist, um es mit Sicherheit zu sagen. Aber wenn ich das Papier berücksichtige …«
»Sie meinen, das Ganze wurde vor fünfzig Jahren geschrieben?« Auf Fischers Stirn vertieften sich die Falten.
»Das nicht. Es kann auch heute geschrieben worden sein. Mit einer alten Maschine, auf einem alten Papier. Dazu noch Fragen?« Herr George schaute in die Runde. Keiner hatte Fragen. Auch nicht Hannah Roosen. Ihr Blick kreuzte sich mit dem Myriams. Beide sahen augenblicklich zur Seite.
»Ich fahre also fort. Der Text steht in der Mitte des Pa-piers. Es wurde sauber zurechtgeschnitten. Mit einer Schere. Auch damit verbindet er eine Absicht. Es handelt sich um ein Zitat und eine Botschaft. Er will kommunizieren. Ihnen et-was sagen. Er weiß, was er tut. Er ist niemand, der unüberlegt handelt.«
»Zum Teufel.« Fischers Stimme war heiser. »Das sind doch alles nur Vermutungen. Genauso gut können Sie aus dem Kaffeesatz lesen, in eine Kristallkugel starren, den Mond anheulen.«
Herr George zwang sich, ruhig zu antworten, doch es fiel ihm schwer. Er wechselte in seinen Züricher Dialekt.
»Ich beschäftige mich mit diesem Gebiet seit 1960. Was ich Ihnen erzähle, ist kein Hokuspokus, sondern stützt sich auf Tausende von Dokumenten, die ich in den letzten fünfundvierzig Jahren untersucht habe.«
»Kommen wir wieder auf den Typ der Schreibmaschine zurück«, versuchte Liebler auszugleichen.
Fischer stand auf.
»Setz dich, Alter, und hör zu«, sagte Liebler.
Fischer setzte sich augenblicklich wieder.
Henri Lieblers Rolle in der Gruppe begann Myriam plötzlich zu interessieren. Sie hatte ihn offenbar die ganze Zeit unterschätzt. Hinter seiner scheinbaren Offenheit, seiner Gelassenheit verbarg sich ein kühler, berechnender Verstand. Seine Aufklärungsquote war hoch. Myriam hatte sich die Personalakten von allen Kriminalbeamten angesehen. Es hatte dem Polizeipräsidenten nicht gefallen. Doch sie wollte wissen, mit wem sie zusammenarbeitete. Liebler hatte eine Beförderung abgelehnt, weil sie daran geknüpft war, eine andere Abteilung zu übernehmen. Er war mit Leib
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