Wintermörder - Roman
Ganz automatisch, denn wenn es um die deutscheVergangenheit geht, kann man nur Fehler machen. Wie schnell wird die Presse schreiben, dass wir wichtige Dokumente nicht berücksichtigt haben, dass wir Verbrechen decken, dass wir die Täter laufen lassen, dass wir uns nicht ernsthaft bemühen, der Sache nachzugehen. Der Täter ist schlau. Er hat die Presse auf uns angesetzt, auf die Kriminalpolizei. Auf mich, auf Sie, auf uns alle.«
Hillmer stand auf und ging zum Fenster. Er machte wieder auf Denker, dabei ging ihm der Arsch auf Grundeis. Er schob Überstunden vor Angst. Nach einigen Minuten drehte er sich zu ihr um.
»Ich kann Sie nicht daran hindern, einen richterlichen Beschluss zu erwirken«, meinte er. »Aber Sie tragen die alleinige Verantwortung.«
Sie hatte das Spiel »Schwarzer Peter« noch nie gemocht. Auf unerklärliche Weise bekam sie immer den Kater.
»Überlässt Conradi uns die Unterlagen nicht, sorge ich für eine formelle Beschlagnahmung.«
Hillmer zuckte zusammen. Offenbar hatte er Angst, wie sich das auf die nächste Golfpartie auswirken würde.
Myriam atmete erleichtert auf, als der Polizeiwagen vor der Kanzlei hielt und Liebler mit zwei Hilfsbeamten ausstieg. Nachdem der Hauptkommissar sich fünfzehn Minuten verspätet hatte, hatte sie Zeit genug gehabt, ihre Entscheidung zu bereuen. Moralisch war sie im Recht. Darauf würde sie ihren gesamten Schuhbestand wetten. Dennoch. Es hatte sie zwei Stunden gekostet, Richter Salm zu einem Durchsuchungsbeschluss zu überreden. Er verlasse sich darauf, dass sie das Gesetz kannte. Dass sie ihre Kompetenzen nicht überschritt. Sie hatte die ganze Zeit nur gedacht, was sein Vater wohl im Krieg gemacht hatte. Der Gedanke ließ sie nicht mehr los. Der Entführer hatte ein Trojanisches Pferd in ihre Welt gebracht. Einen Virus eingeschleppt, der sich in der Psyche festsetzte wie auf der Festplatte.
»Alles okay?«, fragte Liebler mit aufmunterndem Lächeln. Er hatte keine Fragen gestellt, als sie ihm die Lage erklärte.
Sie nickte.
»Dann los!«
Die Kanzlei im vierten Stock wurde von einem Bataillon Neonlämpchen erhellt. Die ältere Frau am Empfang verschwand sofort, als Myriam ihren Namen nannte.
Nur wenige Minuten später stand Dr. Conradi vor ihnen. Sein gepflegtes Äußeres konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass er an die sechzig war. Mit Sicherheit betrieb er weitere Sportarten außer Golf, anders war der gewollt athletische Gang nicht zu erklären. Naturgegeben war der nicht. Auch nicht die Bräune des Gesichtes. Er trug einen grauen Anzug mit Nadelstreifen, darunter ein blassrosa Hemd und eine gleichfarbige Seidenkrawatte mit Goldnadel. Kurz, er passte farblich genau zu dem Arrangement aus Rosen, hinter dem sich die Empfangsdame jetzt verbarg und so tat, als ob sie blind und taub wäre.
»Ja, bitte, was kann ich für Sie tun?«
»Myriam Singer. Ich habe einen Durchsuchungsbeschluss in der Tasche«, begann Myriam, doch bevor sie ihn überreichen konnte, unterbrach sie Liebler plötzlich: »Lassen Sie uns reden.«
»Ich kann nicht mit Ihnen reden«, meinte Conradi, »wenn ich Polizeibeamte im Rücken spüre.«
Liebler nickte den beiden Beamten zu, die sofort den Flur verließen. »Gehen wir anders an die Dinge heran«, wandte er sich wieder Conradi zu. »Wir vertreten doch beide die Interessen der Familie Winkler. Selbst wenn Frau Winkler Sie zum Stillschweigen verpflichtet hat, wird sie nicht gewollt haben, dass Sie uns Informationen vorenthalten und ihr Urenkel deshalb nicht gefunden wird.«
Conradi hob die Hände. »Aber ich kann Ihnen keinen Einblick in die Unterlagen gewähren«, erwiderte er, »selbst wenn ich es wollte. Unsere Kanzlei vertritt die Winklers seit über sechzig Jahren. Da hat sich ein Vertrauensverhältnis entwickelt, das ich nicht einfach aufs Spiel setzen kann. Ich bin meinem Gewissen verpflichtet.«
»Meinen Sie, ich nicht? Und ich möchte nicht das Leben eines siebenjährigen Kindes auf dem Gewissen haben.«
Was wurde das hier? Eine Männerfreundschaft? Myriams Finger umschlossen fest den Durchsuchungsbeschluss.
»Geben Sie uns wenigstens einen Hinweis darauf, um welche Art von Unterlagen es sich handelt. Wir wollen doch zusammenarbeiten, oder? Wir sitzen in einem Boot.«
O Gott, Liebler schleimte.
Nach kurzem Zögern lenkte der Notar ein. »Gehen wir in mein Büro.«
Der Raum wurde von einem Kronleuchter erhellt. Conradi setzte sich an seinen Schreibtisch aus dunkel glänzendem Holz. Dasselbe Holz wie die
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