Wintermörder - Roman
Regale im Hintergrund, in denen aufgereiht die deutschen Gesetzbücher standen. Gediegenheit, Verlässlichkeit, Solidität. Deutsche Kardinaltugenden wurden hier gezeigt, das sollte Vertrauen schaffen. Bei Myriam dagegen bewirkten sie das Gefühl, in allen Bereichen der Justiz müsste einmal wieder gründlich aufgeräumt werden.
»Ich werde Ihnen meinen Wunsch nach Kooperation beweisen, indem ich Ihnen etwas zeige.« Conradi griff nach dem Telefon.»Wir brauchen eine Akteneinsicht in die Privatunterlagen von Henriette Winkler. Im Tresorraum.«
Schweigend warteten sie. Liebler schritt das Bücherregal ab, Conradi starrte zum Fenster hinaus, Myriams Finger verkrampften sich. Sie konnte nicht glauben, dass der Notar einfach so Lieblers Schmeicheleien erlag.
Nach wenigen Minuten erschien die Sekretärin, eine Kassette in den Händen, wie sie Sicherheitsdienste für ihre Geldtransporte verwendeten. Sie trug sie vor sich her wie eine Opfergabe.
»Machen Sie sich nicht allzu große Hoffnungen«, meinte der Notar. Dann öffnete er die Kassette, nahm ein Papier heraus. »Lesen Sie.«
Er gab den Brief Liebler, der ihn Myriam aushändigte.
Nachdem sie ihn gelesen hatte, reichte sie ihn zurück.
»Warum?«, fragte sie an Conradi gewandt, »warum macht jemand so etwas?«
Sie wusste nun, dass Liebler Recht hatte, sie davon abzuhalten, die Papiere zu beschlagnahmen. Sie waren nicht nur verschweißt. Durch die Folie war außerdem ein rotes Wachssiegel zu erkennen.
»Die Angst davor, was nach dem Tod kommt, treibt seltsame Blüten«, erklärte der Notar.
»So einfach ist das nicht«, sagte Myriam.»Henriette Winkler schreibt in diesem Brief, dass Sie Ihnen ihre persönlichen Papiere anvertraut. Sie wünscht, dass diese Papiere von Ihnen persönlich versiegelt und verschweißt werden. Sie sollen dafür sorgen, dass sie in ihrem Sarg zusammen mit ihr bestattet werden. Warum das alles? Ich verstehe es nicht. Warum hat sie die Unterlagen nicht vernichtet? Was hat sie davon, wenn sie in ihrem Sarg liegen?«
Conradi zuckte die Achseln. »Keine Ahnung.«
»Haben Sie nie gefragt?«
»Es gehört wirklich nicht zu meinen Aufgaben, Fragen zu stellen. Sie verstehen jetzt sicher, dass ich mich in diesem Fall ausdrücklich an meine Verschwiegenheitspflicht gebunden fühle.«
»Ich weiß nicht«, sagte Myriam, »ob man einer Toten gegenüber noch verpflichtet ist. Wir arbeiten für die Lebenden, nicht für die Toten.«
»Wirklich? Was ist mit einem Mordopfer? Es ist tot. Nutzt ihm noch die Verurteilung des Täters?«
»Das ist nicht zu vergleichen.«
»Nur vom juristischen Standpunkt aus nicht.«
»Vielleicht könnten uns die Papiere weiterhelfen? Henriette Winkler hatte etwas zu verstecken, etwas zu verbergen. Warum sonst sollte sie diese Unterlagen mit ins Grab nehmen? Ich muss Ihre Entscheidung, die Papiere nicht herauszugeben, juristisch akzeptieren, auch wenn ich es nicht verstehe. Doch warum bestehen Sie darauf? Sie kann sie schließlich nicht mehr verklagen. Sie ist schlicht und einfach tot.«
»Das Vertrauen meiner Klienten ist meine Berufsgrundlage.«
»Ja, ja«, sagte Liebler. »Führen Sie diese Gespräche in Ihren juristischen Zirkeln. Wir haben andere Probleme. Wann hat Frau Winkler Ihnen die Papiere übergeben? Können Sie sich an ein Datum erinnern?«
»Jeder Eingang von Unterlagen wird natürlich vermerkt. Eine Kopie bleibt bei den Papieren, eine im Archiv bei den Mandantendaten.« Er holte aus der Kiste ein Blatt. »Das erste Mal wurde etwas vor einem halben Jahr vorbeigebracht, genauer gesagt am 16. Juni.«
»Von wem?«
»Unterschrieben hat Frau Hirschbach.«
Er legte das Blatt in die Kiste zurück. »Aber mehr kann ich Ihnen nicht mehr sagen. Ich habe meine Verschwiegenheitspflicht schon bis an die Grenze belastet.«
»Nur noch eine Sache.« Liebler ließ nicht locker. »Hat Frau Winkler irgendwann einmal irgendetwas gesagt, was Ihnen seltsam vorkam? Ihnen einen Auftrag erteilt, der nicht unter die Verschwiegenheitspflicht fällt?«
Conradi zögerte.
Er wusste etwas.
Die Beamten standen noch unten. Myriams Hand griff nach dem Durchsuchungsbeschluss in ihrer Tasche.
Doch Conradi lenkte ein.»Ja, da war noch etwas. Vor zwei Wochen rief sie an und fragte, ob ich ihr einen Auszug aus einem Geburtenregister besorgen könnte.«
»Ein Geburtenregister?«, fragte Myriam verwirrt. »Wa-rum?«
»Ich sollte nach einem Namen suchen.«
»Welchem Name?«
»Sophia Fuchs.«
»Sophia Fuchs?«
»Ja.«
»Haben
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