Wintermond (German Edition)
wusste und ihn gegebenenfalls ein weiteres Mal aufsuchen würde. Vielleicht, wenn Diego eines Tages plötzlich auftauchen würde oder spätestens dann, wenn der verschwundene Student vermisst werden würde. Also brachten ihn auch diese Gedanken nicht weiter, weshalb er jene Problemakte ebenfalls beiseite legen musste und sich schließlich seinem emotional größten Problem zu widmen begann: Ben.
Alex’ Magen zog sich zusammen. Er begann nervös zu werden, obwohl es keinen wirklichen Anlass dazu gab. Nachdenklich kaute er an einem seiner Fingernägel, nahm die Hand dann wieder herunter und leerte den Inhalt seiner Tasse. Den letzten Schluck musste er mit zusammengekniffenen Augen hinunterwürgen, denn mit einem Mal bekam ihm der Geschmack nicht mehr. Ihm wurde übel und etwas schwindelig. Vorerst brauchte er eine kleine alkoholische Pause und schob die Tasse deshalb entschlossen zur Seite.
Ben war ein wahres Problem, denn er hatte ihn in etwas hineingezogen, mit dem er eigentlich nichts zu tun haben wollte. Dass der Dunkelhaarige etwas von ihm wollte, war ganz offensichtlich. Schon zu Beginn seines Praktikums hatte er Alex oft recht merkwürdig angestarrt, ihn beim Duschen beobachtet und ihn auch vor der Sache im Bad einmal in der Küche zu küssen versucht.
Alex atmete tief durch und war bemüht, seine Gedanken zu sammeln, doch gelang es ihm kaum noch. Die Bilder in seinem Kopf zogen so rasant an seinem geistigen Auge vorbei, dass er ihnen nur schlecht folgen konnte. Die vielen Rückblicke überschlugen sich förmlich und mit einem Mal schossen ihm nur noch genau die Bilder in den Kopf, mit denen er sich eigentlich überhaupt nicht befassen wollte. Doch sein Verstand schien ihn gezielt dazu zu zwingen, sich mit diesem Geschehen auseinanderzusetzen. Deshalb musste er ungewollt an Ben denken und daran, wie dieser sich nach ihrem gemeinsamen Kuss einen runtergeholt hatte. Genau diese Szene lief derart detailliert durch seinen Kopf, dass Alex nervös von links nach rechts zu spähen begann, als ob er befürchtete, dass irgendjemand von den Nachbartischen seine Gedanken lesen konnte und ihn damit auf frischer Tat ertappen würde. Er fühlte sich miserabel und versuchte einfach nur eine Erklärung dafür zu finden, warum er Ben überhaupt geküsst hatte und warum sein verfluchter Körper mit einer Erektion darauf reagiert hatte. Doch trotz aller Bemühungen fand er keine Antworten auf seine vielen Fragen. Er wusste lediglich, dass er nichts von Ben wollte und war sich sicher, dass er nicht schwul war. Zumindest versuchte er sich dies einzureden. Das einzige, was dagegen sprach, war, dass er noch vor wenigen Minuten relativ aufgeregt auf den Flirtversuch eines gutaussehenden Typen reagiert hatte.
Alex schloss seine Augen, seufzte und legte seinen Kopf dabei leicht in den Nacken. Er verstand nicht, was mit ihm los war und schob den Kuss deshalb einfach auf die völlige Überforderung und Verzweiflung der letzten Tage. Es gab sogar etwas, womit er den Kuss einigermaßen rechtfertigen konnte - nämlich die Tatsache, dass Ben stets für ihn da gewesen war. Vielleicht hatten genau diese Bemühungen ein derartiges Wohlbefinden in ihm ausgelöst, dass er sich nicht länger hatte unter Kontrolle halten können und es deshalb zu dem besagten Kuss gekommen war. Vermutlich hatte er sich einfach nach etwas Geborgenheit und Nähe gesehnt und vielleicht auch nach etwas Sex. Natürlich nicht nach Sex mit Ben, aber ein männlicher Organismus war nun einmal recht einfach strukturiert und konnte bei zu langer Enthaltsamkeit zum ein oder anderen Fehlverhalten führen. Ja, genau das war vermutlich die einzig logische Erklärung für sein Verhalten.
Alex nickte kaum merklich. Seine Augen hielt er noch immer geschlossen und begann sich dadurch noch wesentlich betrunkener zu fühlen. Alles drehte sich und da er die Liste seiner vielen Probleme jetzt erfolgreich durchgearbeitet hatte, konnte er sich endlich voll und ganz dem Alkohol hingeben. Er genoss das benebelnde Gefühl, das sich wie ein sanfter Schleier auf seinen Geist legte und ihn besänftigte, aber auch veränderte. Er begann sich fremd in seinem Körper zu fühlen und spürte dabei, wie der Alkohol ihn auflockerte und ihn die vielen Probleme schließlich vergessen ließ. In seinem Kopf kehrte mit einem Mal eine seltene Ruhe ein. Er lauschte den vielen Stimmen und der leisen Jazzmusik wie ein Kind seiner Einschlafgeschichte. Der Lärm beruhigte ihn auf eine seltsame Art und Weise,
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