Wintermond (German Edition)
warf den Ball in den Flur.
Das rote Spielzeug hüpfte über die Fliesen und rollte schließlich ins Arbeitszimmer. Sam rannte sofort hinter, doch rief Alex ihn bestimmt zurück: „Nein, Sam!“
Alex wusste, dass sein Vater es nicht mochte, wenn er bei der Arbeit gestört wurde oder Sam dort herum tollte. Kläglich fiepend machte Sam Platz und robbte ein paar Zentimeter vorwärts, legte den Kopf leicht schief, als ob er Alex mit dem berüchtigten Hundeblick besänftigen wollte.
„Nein, Sam!“, sagte Alex erneut, aber etwas ruhiger. „Aber ich hol’ den Ball und dann spielen wir weiter.“
Daraufhin schritt Alex an Sam vorbei und betrat leise das Arbeitszimmer. Sein Vater saß wie üblich am Schreibtisch, allerdings nicht vor seinem, sondern vor Bens Laptop. Alex und Jo ignorierten sich, während Alex schleichenden Fußes durch das Zimmer trat und sich suchend umblickte. Es schien fast, als ob er Angst hatte, auch nur einen einzigen Laut entstehen zu lassen und seinen Vater damit aus seiner Konzentration zu reißen. Er fragte sich in jenem Moment selbst, warum er so viel Respekt vor Jo hatte, aber - obgleich er es nicht zugeben wollte - er war in gewisser Art und Weise abhängig von seinem Vater, vor allem finanziell.
Vorsichtig blickte er sich um, spähte unter die Couch und unter den Schreibtisch.
„Kann ich dir irgendwie helfen?“, fragte Jo plötzlich, blickte dabei jedoch nicht einmal auf. Er klang genervt.
„Ich such’ Sams Ball“, antwortete Alex und in genau diesem Moment entdeckte er das besagte Spielzeug. Der Ball war zwischen ein paar Bücher des untersten Regalfaches gegenüber dem Schreibtisch gerollt.
„Hast du etwa nichts Besseres zu tun?“, fragte sein Vater, während er in irgendwelchen Unterlagen kramte.
Alex erwiderte nichts. Er schritt auf das große Regal zu und bückte sich. Dann streckte er seinen Arm lang aus und tastete sich mit seiner Hand über den Regalboden, bis er das gewünschte Objekt an seinen Fingerspitzen ertastete und es hervorzog. Als er sich wieder aufrichtete, sah er im Augenwinkel den offenen Safe seines Vaters. Er wandte den Blick ab und wollte eigentlich gehen, drehte sich dann jedoch wieder um und blickte fasziniert in das Innere des Safes. Neben einigen Heftern und Papieren lagen ganze Geldscheinbündel. Direkt daneben war ein Fach, in dem sich eine wertvolle Smaragdschmuckgarnitur seiner verstorbenen Mutter befand. Alex erinnerte sich noch haargenau an den Tag, an welchem sein Vater seiner Mutter den Schmuck geschenkt hatte und dabei snobistisch geprotzt hatte: „ Ein weißgoldener 750er Armreif, ein Collier aus Platin. Brillanten, zusammen 9,5 Karat. Smaragde im Cabochonschliff. Nur das Beste für meine Frau .“
Alex kniff seine Lippen zusammen. Der Schmuck war mindestens 30.000 Euro wert. Aber er hasste ihn. Der Schmuck war nur einer der wenigen Gründe gewesen, die seine Mutter krank gemacht hatten. Jo hatte sie vermutlich mit teuren Geschenken begütigen wollen, um damit die Krisen der Ehe zu überspielen.
Während Alex über all diese Dinge nachdachte, richtete Jo sich hinter ihm von seinem Schreibtischstuhl auf und drängte sich neben ihn. Er legte ein paar Unterlagen zurück in den Safe und drückte ihn daraufhin fest zu, wirkte dabei fast ein wenig provokant, als ob er Alex verdeutlichen wollte, dass dieser nichts an diesem Safe zu suchen hatte. Alex ignorierte das Verhalten seines Vaters gekonnt.
Er wollte gerade gehen, als sein Vater erneut das Schweigen brach und sich dabei zurück auf den Schreibtischstuhl sinken ließ.
„Was ist eigentlich mit dem Geld? Brauchst du das immer noch?“, fragte Jo, während er den Laptop vor sich in eine geeignetere Position rückte.
Alex dachte an den Überfall, dachte an das Telefonat im Park und daran, dass Ben eine Menge über seine Probleme wusste. Egal, was noch passieren sollte, durfte sein Vater auf keinen Fall irgendeinen Verdacht schöpfen. Noch bevor dieser es jedoch irgendwann tun könnte, musste Alex jegliche Vermutung in völliger Belanglosigkeit ersticken.
„Das hat sich längst erledigt“, sagte er überzeugend.
Jo legte seinen Kopf einen Moment lang nachdenklich in den Nacken und fuhr sich mit einer Hand über den Hals. Skeptisch musterte er seinen Sohn.
„Wo hast du denn so viel Geld aufgetrieben?“, fragte er dann.
„Ich brauchte es gar nicht mehr auftreiben“, entgegnete Alex. „Die ganze Sache hat sich erledigt.“
Noch immer schien sein Vater ihn intensiv zu beobachten,
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