Wintermond (German Edition)
eines der Fenster. Er spähte in die noch düstere, winterliche Morgenlandschaft. Über Nacht schien kein neuer Schnee gefallen zu sein. Er zog die Vorhänge zur Seite und atmete die frische Luft, die durch das gekippte Fenster ins Zimmer gesogen wurde, tief ein. Dann streckte er sich noch einmal, bevor er nach seinem Handy griff. Er hatte ein paar Geburtstags-SMS bekommen, einige davon bereits in der Nacht. Ben überflog sie schnell. Nachdenklich klickte er sich dann durch das Menu zu den Anruflisten und wählte „ Anrufe in Abwesenheit “ aus. Dort fand er eine fremde Handynummer vor. Es war Alex’ Nummer. Ben zögerte noch einen Moment, bevor er die Nummer in seinem Telefonbuch speicherte. Er wollte das Handy daraufhin gerade wieder weglegen, als es in seiner Hand zu vibrieren und klingeln begann. Über die Displayanzeige konnte er sehen, dass der Anruf von seiner Mutter kam.
„Hi, Mom!“, begrüßte er sie, nachdem er auf die grüne Taste gedrückt hatte.
„Hey, mein Schatz!“, erwiderte diese erfreut. „Ich wünsche dir alles, alles Liebe zum Geburtstag!“
„Danke“, sagte Ben knapp.
„Schade, dass du nicht hier bist. Aber es warten eine Menge Geschenke auf dich“, erzählte die sanfte Stimme seiner Mutter.
„Das ist lieb, Mom. Vielen Dank“, wiederholte Ben sich.
„Geht’s dir sonst gut? Du meldest dich ja kaum. Kommst du voran?“, fragte seine Mutter aufgeregt.
„Ja, alles bestens. Ich komm’ sehr gut voran. Geht’s euch auch gut?“
„Ach, alles wie immer“, antwortete seine Mutter, „und was machst du heute Schönes?“
„Nick kommt mich hier besuchen“, sagte Ben. „Mal schauen, was wir dann machen können. Jo hat mir heute frei gegeben.“
„Nick?“, fragte seine Mutter irritiert zurück.
„Ja, keine Ahnung, was mit dem los ist. Aber ein wenig Ablenkung kann ich gut gebrauchen. Es kommt mir also ganz recht“, erwiderte Ben gelassen, während er mit seiner freien Hand etwas Staub vom Nachtisch fegte.
„Hauptsache, du steigerst dich nicht wieder in etwas rein, Ben!“, sagte seine Mutter besorgt.
„Ich bin ja alt genug, Mom“, lachte Ben. „Ich muss jetzt Schluss machen“, log er dann, „ich wollt’ gerade duschen gehen.“
„In Ordnung. Schöne Grüße von deinem Vater ... auch an Johannes. Wir wünschen dir wirklich einen schönen Tag. Bis bald!“, verabschiedete seine Mutter sich.
„Ja, bis dann. Ciao“, sagte Ben, nahm dann das Handy vom Ohr und legte auf. Ben überlegte, ob er joggen gehen sollte, doch wusste er nicht einmal genau, wann Nick kommen würde und dessen Ankunft wollte er in keinem Fall verpassen. Außerdem war ja sein Geburtstag und da durfte das geregelte Alltagsprogramm ruhig ausnahmsweise einmal aus den Fugen geraten. Das war noch eines der wenigen Dinge, die man sich seiner Meinung nach an seinem Ehrentag gönnen durfte.
Das Knurren seines Magens riss ihn aus den Gedanken. Der Hunger trieb ihn schließlich an, sich hastig anzuziehen. Er strich das Bettzeug noch schnell und grob glatt, bevor er sein Zimmer verließ und die Treppe zur Küche hinuntereilte. Dort angekommen griff er nach einem Glas und schenkte sich Wasser ein. Dann nahm er sich - wie üblich - eine Schüssel, streute körniges Müsli hinein, schüttete Milch darüber und grabschte noch schnell in der Schublade nach einem Löffel. Er nahm all die Sachen an sich und schritt völlig überladen in Richtung des Esszimmers. Dort angekommen fand er statt Jo nur Alex vor einer Scheibe Brot vor. Der Blonde blickte geistesabwesend ins Leere, pulte dabei die Kruste von seinem Vollkornbrot. Ben verweilte in seiner Position und beobachtete ihn nachdenklich. Er begann über Alex nachzudenken und ertappte sich wie so oft dabei, dass er dies sogar sehr gern tat. Der Blonde sah verdammt gut aus und hatte einen ziemlich ungewöhnlichen Charakter mit zwei vollkommen unterschiedlichen Seiten. Aber gerade diese bizarre Art von ihm wirkte anziehend auf Ben. Er fand Alex interessant und hatte nun schon einige Male für wenige Sekunde hinter dessen Fassade blicken können und dadurch herausgefunden, dass hinter der kühlen, hasserfüllten Seite Alex’ vermutlich noch viel mehr verborgen lag. Etwas, das Ben herausfinden wollte. Deshalb störte es ihn kaum mehr, dass Jos Sohn ihn oft beleidigte oder demütigte. Die dominante Art von Alex’ in manchen Situationen, wie beispielsweise im Wintergarten oder im Park, riefen reinen Nervenkitzel in Ben hervor. Immer wieder, wenn Alex ihn wegen
Weitere Kostenlose Bücher