Wintermond (German Edition)
erwiderte Ben höflich und stand auf.
Er beeilte sich etwas, als er sah, dass Jo ihm den schwarzen Hefter bereits entgegen streckte und nahm ihm diesen daraufhin einige Sekunden später ab.
„Danke“, sagte Jo trocken und begann sich wieder auf seine Arbeit zu konzentrieren.
Ben trat zum zweiten Mal an diesem Tag zum silbernen Sicherheitsschrank, erinnerte sich an die Zahlenkombination und öffnete den Safe behutsam. Bevor er die Unterlagen zurücklegte, spähte er neugierig ins Innere des Safes. Links häuften sich Geldscheinbündel, rechts gab es ein Fach mit vielen dünnen, ordentlich aufeinander gestapelten Ordnern. Direkt darunter befand sich eine perlmuttfarbene Schale mit kostbar aussehendem Schmuck. Der Anblick fesselte und beeindruckte ihn. Noch nie hatte er so viel Wertvolles auf einmal gesehen. Der Schmuck war sehr schön. Es waren eine Kette und ein Armband, an denen sich abwechselnd aneinander gereiht weiße und grüne Edelsteine befanden. Ohne genauer darüber nachzudenken, streckte Ben seine Hand aus und ergriff die etwa hundert Gramm schwere Kette. Er umfasste sie mit seinem Daumen und ließ sie dann an seiner Hand herunterhängen, um sie genauer betrachten zu können. Dabei fragte er sich, wem der Schmuck wohl gehörte und war sich beim näheren Hinsehen fast sicher, dass allein die Kette ein Vermögen wert sein musste. Ansonsten würde Jo sie wahrscheinlich nicht in seinem Safe aufbewahren, ausgenommen dessen, dass sie vielleicht einen besonders persönlichen Wert hatte, den es zu schützen galt. Doch danach sah es nicht aus. Die klar geschliffenen Edelsteine funkelten und schienen kompliziert verarbeitet zu sein. Ben konnte seinen Blick kaum mehr von der Kette abwenden und merkte aus diesem Grund erst recht spät, dass Jo ihn schon eine ganze Weile lang beobachtete. Schließlich riss dieser ihn vollkommen aus den Gedanken, indem er sich von seinem Schreibtischstuhl erhob und auf Ben zutrat. Vorsichtig nahm er ihm dann die Kette aus der Hand.
„Lass lieber deine Finger davon!“, sagte Jo streng, bevor er jedoch beschwichtigend, fast verlegen auflachte. „Nicht, dass du noch auf dumme Gedanken kommst ...“
Ben beobachtete, wie Jo die Halskette zurück in die Perlmuttscharle legte und den Safe daraufhin zudrückte. Er zögerte noch einen Moment lang, bevor er seinen derzeitigen Gedanken mutig aussprach.
„Ist der Schmuck von deiner Frau?“, fragte er bedächtig.
„Ben, das geht dich nichts an“, entgegnete Jo sehr direkt und damit in einer Art und Weise, die Ben eigentlich nur von Alex kannte. Gewisse Charaktereigenschaften schienen sich also doch vererbt zu haben.
„Der Schmuck ist wirklich sehr wertvoll“, erklärte Jo dann und versuchte dabei, wieder gelassener zu klingen.
Ben wollte am liebsten hinterfragen, wie wertvoll, doch ließ er dies lieber. Stattdessen fragte er sich, was wohl mit Jos Frau geschehen war, denn Jos Reaktion machte deutlich, dass der Schmuck einmal ihr gehört haben musste. Doch danach konnte er Jo wohl kaum fragen, weshalb seine Grübelei ihn letztendlich ins Nichts führte.
Erst als Jo sich zurück an seinen Schreibtisch setzte und Ben daraufhin noch einmal über sein Verhalten nachdachte, wurde ihm bewusst, wie unhöflich und selbsteinladend er sich benommen hatte.
„Tut mir leid“, sagte er daraufhin an Jo gewandt. „Ich wollte nicht in deinen Sachen rumwühlen. Wirklich.“
„Ist schon gut“, tat Jo die ganze Sache mit einer winkenden Handbewegung ab. „Setz dich lieber wieder an deine Arbeit, statt dir unnötige Gedanken zu machen!“
Ben nickte, obwohl Jo ihn nicht einmal ansah. Dann trat er vom Regal weg und ging zurück zu der Couch, vor welcher sich der Granittisch samt seinem aufgeklappten Laptop befand. Kaum hatte er sich wieder auf die Chaiselongue sinken lassen, betrat Alex samt Sam das Arbeitszimmer. Jo sah nicht einmal von seinem Bildschirm auf, während Ben wütend in Alex’ Richtung blickte. Die halbe Nacht hatte er sich Gedanken über den gestrigen Vorfall in der Küche gemacht und war dennoch zu keiner Schlussfolgerung gekommen. Er erinnerte sich an seinen trunkenen Zustand und daran, wie er Alex geküsst hatte. Der Kuss hatte sich gut angefühlt, auch wenn Ben sich aufgrund seines zu dem Zeitpunkt vorhandenen Alkoholpegels nur schwach an alle Details der Situation zurück erinnern konnte. Er wusste nur, dass Alex den Kuss zunächst weder erwidert noch verweigert hatte. Erst nach einer ganzen Weile hatte er ihn weggestoßen
Weitere Kostenlose Bücher