Wintermond (German Edition)
diese vertraute Art und Weise mit ihm zu unterhalten. Wie hatte Ben es in so kurzer Zeit nur geschafft, Alex’ Platz in der Familie einzunehmen? Jo schien noch oberflächlicher und karrierebezogener zu sein, als Alex es immer gedacht hatte. Er und sein Vater hatten längst keine Bindung mehr zueinander. Die einzige Beziehung der beiden bestand darin, dem jeweils anderen ein Gefühl von Zweisamkeit in der großen Villa zu vermitteln, damit sich keiner der beiden zu einsam fühlte und zumindest für Außenstehende das trügerische Bild einer Vater-Sohn-Beziehung zu erkennen war.
Alex observierte die beiden weiter. Jo ließ sich neben Ben an seinem Computer nieder und blickte konzentriert auf den Bildschirm. Dann tippte er irgendetwas und wandte sich kurz darauf wieder an Ben, drehte seinen Bildschirm dabei so, dass der Dunkelhaarige darauf blicken konnte.
Alex wurde wütend. Am liebsten hätte er den Raum betreten und seine Meinung zu dem ganzen Getue kundgetan, doch wagte er dies einfach nicht. Stattdessen blieb er bewegungslos stehen und beobachtete weiter. Eine ganze Weile geschah kaum etwas, bis Ben sich plötzlich vom Stuhl erhob und offenbar in Alex’ Richtung gehen wollte. Sofort wich dieser daraufhin von der Tür zurück und trat einige Schritte nach hinten. Angespannt horchte er und versuchte herauszufinden, ob Ben sich ihm tatsächlich näherte oder nicht. Doch dann hörte er plötzlich seinen Vater sprechen.
„Ben, holst du mir bitte etwas aus dem Safe?“
Alex erstarrte. Er traute seinen Ohren nicht. Seine Neugierde trieb ihn schließlich erneut an. Er trat wieder nach vorn und blickte erneut in das Arbeitszimmer. Dort sah er Ben neben der Couch verharren und sich dann wieder zu Jo umdrehen. Der Dunkelhaarige schien nicht weniger irritiert zu sein, bevor er in langsamen Schritten zum Bücherregal ging und ratlos vor dem silberfarbenen Safe stehen blieb.
„2312“, sagte Jo, ohne danach gefragt worden zu sein.
Alex stockte der Atem. Es war der Code für den Safe, den Jo Ben soeben genannt hatte. Nicht einmal Alex hatte ihn bislang gekannt und wusste nun, dass die Kombination den Geburtstag seiner Mutter ergab. Er war fassungslos über die Tatsache, dass sein Vater irgendeinem daher gelaufenen Praktikanten soeben die Zahlen genannt hatte, welche den Schlüssel zu viel Geld, wertvollem Schmuck und bedeutungsvollen Unterlagen darstellten. Alex wurde wütend. Sein Vater schien einem Fremden mehr zu vertrauen als seinem eigenen Sohn. Diese Erkenntnis schmerzte und ließ Alex stark schlucken. Er musste sich zusammenreißen, um nicht in das Zimmer zu stürmen und seinen Vater nach Gründen für dessen Handeln zu fragen.
Stattdessen beobachtete Alex das Geschehen weiter. Ben stand noch immer reglos vor dem Safe. Erst nach weiteren, verstrichenen Sekunden hob der Dunkelhaarige seine Hand und begann an dem kleinen Rädchen des Safes zu drehen. Kurze Zeit später sprang die massive Tür lautlos auf. Ben starrte in das Innere und sagte noch immer kein Wort. Als hätte Jo Augen im Rücken, meinte dieser daraufhin:
„Da ist irgendwo eine kleine schwarze Mappe. Bringst du mir die bitte? Und mach’ die Tür danach wieder zu!“
Schließlich griff Bens Hand in den Safe. Ben schien ein wenig herumzukramen, eh er sie samt dem gewünschten Gegenstand wieder hervorzog und die Safetür daraufhin behutsam zudrückte.
„Tz...“, machte Alex leise und schüttelte ungläubig den Kopf.
Er wollte die beiden noch weiter beobachten, doch nahm er plötzlich eine Bewegung in seinem Augenwinkel wahr und wandte sich daraufhin erschrocken zur Seite. Es war Sam, der aus der Küche getapst kam und ihn begrüßen wollte. Alex lächelte in Richtung des Schäferhundes und blickte dann noch ein letztes Mal in das Arbeitszimmer. Jo und Ben saßen derweilen wieder beide vor dem Schreibtisch und schienen in ihre Arbeit vertieft zu sein.
Schließlich trat Alex von der Tür zurück und schritt in die Mitte des Flures, um daraufhin seinen Hund zu begrüßen, der geduldig neben der Kommode auf ihn wartete. Er strich ihm sanft über die Schnauze und hielt dann seine Hand hin, die Sam daraufhin genüsslich ableckte.
Alex grinste und wischte seine Hand grob im braunen Fell des Hundes ab.
„Komm!“, forderte er Sam bestimmt auf. „Wir gehen in den Garten.“
Sam erhob sich mit einem Schwanzwedeln aus seiner sitzenden Position und huschte aufgeregt vor Alex’ Füßen hin und her. Alex holte seine Schuhe unter der Garderobe hervor und
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