Wintermord
wir kriegen ihn selbst zu fassen – wenn uns der Mörder nicht zuvorkommt. Entscheiden Sie selbst.«
Molin begann schwer zu atmen, röchelte und griff sich an die Brust.
»Schön ruhig durchatmen.«
Tell trat einen Schritt zurück, damit der Alte sich nicht bedrängt fühlte. Molin legte sich beide Hände vor den Mund, und bald hatte sich seine Atmung wieder beruhigt.
»Was wissen Sie über Svens Beteiligung an dem Verbrechen von 1995?«, drängte Tell.
»Er war völlig aus dem Häuschen.«
Die Stimme kam von hinten. Als Tell sich umdrehte, sah er Dagny Molin in die tränennassen Augen. Sie trug einen ausgewaschenen knöchellangen Rock und hatte sich einen Morgenrock mit Millefleur-Muster über die Schultern geworfen. Trotzdem zitterte sie vor Kälte – vielleicht weinte sie aber auch. Sie stützte sich an der Wand ab, um nicht zu fallen.
»Dagny ...«, begann Bertil Molin, aber seine Frau schüttelte den Kopf.
»Nein. Lass mich erzählen.«
Sie zog den Morgenmantel enger und verschränkte die Arme. »Er war völlig aus dem Häuschen, als er in dieser Nacht nach Hause kam. Normalerweise bin ich nicht wach geblieben, um auf ihn zu warten, er war ja schon lange erwachsen und hatte seine eigene Wohnung im Keller. Aber an dem Morgen kam er nach Hause und setzte sich ins Wohnzimmer. Ich hatte die ganze Nacht nicht schlafen können und saß in der Küche, und als ich zu ihm ging, um zu sehen, was los war, hatte er ... hatte er sich auf den Boden übergeben.«
Sie wischte sich die Tränen mit dem Daumen weg. »Als er mich sah, rannte er zur Kellertreppe, aber er ... rutschte auf dem Teppich aus und fiel hin, und dann fing er an zu weinen, und Bertil wachte auch auf von dem ganzen Lärm und kam runter ...«
Ihre Stimme bebte, und sie musste tief durchatmen, bevor sie weitersprechen konnte. »Sven war völlig dreckverschmiert und nass, und vielleicht hatte er auch Blut an der Kleidung, aber vielleicht ist das auch nur in meiner Erinnerung so ... Ich versuchte, ihn zum Reden zu bringen, während ich ihm die nassen Kleider auszog wie einem Kind. Aber er weinte bloß ... Schließlich schlief er auf dem Sofa ein.«
»Und am Morgen danach?«
»Er weigerte sich, über die Ereignisse der Nacht zu sprechen. Aber es dauerte lange, bis er wieder so war wie früher. Man könnte fast sagen, dass unser Junge nie wieder so wie früher geworden ist. Es kam mir vor, als ... Er konnte ja überhaupt nicht mehr lachen.«
»Aber Sie müssen sich doch gefragt haben, was dahinter steckte«, meinte Karin Beckman.
Dagny Molin nickte betrübt. »Erst hab ich mir eingeredet, dass es am Alkohol gelegen hatte – er stank schrecklich nach Schnaps, als er heimkam. Aber ich konnte mich trotzdem nie so ganz beruhigen, denn ... sie war so ... primitiv irgendwie.«
»Sie?«
»Die Angst. Die Trauer. Er weinte wie ein Kind, dessen Hund überfahren worden ist.«
»Oder ein Kind, das seine Unschuld verloren hat«, murmelte Karin.
Dann förderte sie ein Paket Taschentücher aus ihrer Handtasche zutage und reichte es Dagny Molin, die mit einem verängstigten Blick auf ihren Mann dankbar zugriff.
»Wie haben Sie es schließlich erfahren?«
Nachdem sich die alte Frau geschnäuzt hatte, nickte sie. »Jahre nach dem Vorfall bekamen wir einen Brief, der natürlich an Sven adressiert war, aber ich hab ihn aufgemacht. Sven wohnte ja nicht mehr hier und vielleicht ... Ach, ich weiß auch nicht. In dem Brief stand jedenfalls, dass ... Sven mit Thomas Edell und Olof Pilgren ...«
Sie schluchzte ins Taschentuch, dann räusperte sie sich und fuhr fort. »Ich weiß noch, dass der Brief ganz komisch geschrieben war. Kindlich irgendwie, Groß- und Kleinbuchstaben durcheinander und lauter Rechtschreibfehler. Vielleicht hätte ich es sonst für einen dummen Scherz gehalten – wenn ich nicht Svens Augen in dieser einen Nacht gesehen hätte. Dieses Grauen. Da wusste ich, dass es stimmte.«
»Was glauben Sie, warum dieser Brief geschickt wurde?«
»Um ihn zu zwingen, sich der Polizei zu stellen, glaube ich. In dem Brief stand, er sollte seine Strafe annehmen, sonst würde er es ... büßen. Vielleicht hatte es derjenige aber auch nur auf Geld abgesehen.«
»Haben Sie den Brief noch?«, erkundigte sich Tell.
Jetzt schüttelte Bertil Molin den Kopf. »Nein. Den haben wir weggeworfen.«
Er blickte auf seine Filzpantoffeln, die sich mit Tau vollgesogen hatten. »Es war schon so viel Zeit vergangen. Wir hatten den Eindruck, derjenige, der den Brief
Weitere Kostenlose Bücher