Wintermord
wahrscheinlich der Sturm heruntergerissen hatte. Alle Fenster in der Eternitfassade des Wohngebäudes waren dunkel, und es machte auch auf mehrmaliges Klingeln niemand auf.
Tell und Karin Beckman drehten eine Runde ums Haus – und entdeckten sofort den Renault. Er stand auf der Wiese hinterm Wirtschaftsgebäude. Seine Räder hatten die Grasnarbe tief aufgerissen, und in den Spuren sammelte sich bereits das Wasser.
Entschlossen ignorierte Tell nun die Klingel und hämmerte so energisch an die Tür, dass die Glasscheibe schepperte. »Na los, machen Sie auf! Wir wissen, dass Sie zu Hause sind.«
Er würde nicht von der Vortreppe weichen, bis das alte Paar die Geduld verlor, aber da hörte man schon Schritte im Haus, begleitet von gedämpftem Räuspern. Bertil Molin räusperte sich immer noch, als die Schlüssel im Schloss rasselten und die Tür aufging. Er trug eine Baumwollhose und ein blauweiß kariertes Hemd. Das Logo auf seiner Baseball-Kappe war bis zur Unleserlichkeit abgeschabt.
Offensichtlich freute er sich nicht sonderlich, sie zu sehen. Sein Räuspern ging in einen so heftigen Hustenanfall über, dass Molin in den Flur zurücktreten und sich zusammenkrümmen musste.
Tell fand, dass der Mann jetzt ausreichend Aufschub bekommen hatte. »Wollen Sie uns nicht reinlassen?«
»Kommt drauf an, in welcher Angelegenheit Sie hier sind«, erwiderte Molin gallig.
»Wir möchten alte Erinnerungen wiederaufleben lassen – sollen wir es vielleicht so nennen?«
Tell drängte sich an Molin vorbei, ging durch den Flur und trat in eine kleine Küche, in der ein Tisch und zwei Stühle standen. Ohne die Jacke auszuziehen, ließ er sich auf einen Stuhl fallen.
Karin Beckman folgte ihm und lehnte sich an die Spüle. Auf dem Holzofen standen ein Becher, Milch und ein Honigtopf. Bertil Molin hatte gerade einen Tee trinken wollen, als er gestört wurde.
Während sie darauf warteten, dass Molin sich auch in die Küche bequemte, wählte Tell Karlbergs Nummer. Sein Kollege nahm nach dem ersten Läuten ab.
»Erreichst du ihn auf seiner Festnetznummer?«
»Sven Molin? Nein. Auf der Handynummer auch nicht.«
»Okay. Versuch’s weiter.«
Unterdessen war es im Flur besorgniserregend still. Tell fing Karin Beckmans Blick auf. Versuchte er abzuhauen? Einen Augenblick später erschien Molin in der Küchentür.
Er sah erst Tell am Tisch, dann Karin Beckman an der Spüle. Seine Auswahlmöglichkeiten waren also begrenzt. Krampfhaft rieb er sich mit der Handfläche übers Hosenbein, als litte er an einem lästigen Juckreiz. »Wir können ins Esszimmer gehen. Meine Frau schläft im Obergeschoss. Wenn wir uns reinsetzen, muss sie nicht ...«
»Nicht nötig«, fiel Tell ihm ins Wort. »Außerdem glaube ich, dass Ihre Frau zu diesem Gespräch einiges beitragen könnte, wenn Sie sie wecken würden. Ich habe einige Fragen zu Ihrem Sohn.«
Molin zuckte zusammen. »Ich wüsste nicht, aus welchem Grund Sie mit Sven reden sollten«, protestierte er. »Er kann unmöglich etwas mit diesen hässlichen Vorfällen zu tun haben. Es ist schon Jahre her, dass er einen Fuß in diese Gegend gesetzt hat.«
»Was meinen Sie mit hässlichen Vorfällen?«
»Na ja ... Auf der anderen Seite des Ackers ist ein Mann ermordet worden, oder?« Er sprach übertrieben deutlich, als würde er mit dummen Kindern reden. »Deswegen sind Sie doch hier. Ich wüsste nicht, warum Sie mir sonst Fragen stellen sollten. Und wenn Sie mir Fragen zu meinem Sohn Sven stellen, gehe ich davon aus, dass sie ihn verdächtigen, etwas mit dem Mord zu tun zu haben. Das ist völliger Unfug, denn, wie gesagt, er hat seit über zehn Jahren kein Wort mit Lise-Lott Edell gewechselt. Das lässt sich auch beweisen.«
Nach Molins unerwarteter rhetorischer Leistung mussten sich Tell und Karin Beckman erst mal erholen. Auf dem Weg vom Präsidium hatten sie diskutiert, wie sie dem Ehepaar Molin ihre Hypothese unterbreiten sollten. Schließlich hatten sie bis jetzt nur die Information, dass ihr Sohn angeblich mit zwei Männern befreundet gewesen war, die sich – auch das reine Spekulation – vor knapp fünfzehn Jahren an einer Frau vergriffen haben sollten. Ein Verbrechen, das obendrein nie bewiesen worden war.
Sie spielten sämtliche Überraschungstaktiken durch. Es war meistens ganz wirkungsvoll, bei einer Vernehmung so zu tun, als wüsste man mehr, als man tatsächlich wusste. Andererseits konnte eine einfühlsamere Vorgehensweise Molin vielleicht dazu bringen, seine belastenden
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