Wintermord
zunickte. Sie würde sich um Lise-Lott kümmern.
10
Die Farbe war schon großflächig abgeblättert, und das hölzerne Fensterbrett fühlte sich unter ihren Fingerspitzen an, als würde man Pilze an einem Baumstamm berühren. Das Wasser musste jahrelang an der Innenseite der Scheibe herabgelaufen sein. Morgens war sie von einer dünnen Eisschicht bedeckt, sodass man jenseits des Brennholzstapels und des Misthaufens nicht mehr viel erkennen konnte. Die Fenster hätten einmal richtig abgedichtet oder gleich ersetzt werden müssen.
Seja seufzte. Sie war in einer Mietwohnung aufgewachsen und verstand vom Heimwerken überhaupt nichts. Hinter ihr schnaubte Lukas in seiner Box. Eigentlich war es kein Stall, sondern ein Vorratsschuppen, in dem der alte Gren, dem sie das Haus abgekauft hatten, seine Schreinerwerkstatt gehabt hatte. Die Werkbank stand noch an der Wand, unter Stapeln von Hafersäcken und Futtereimern. Eine Heizung verströmte Wärme in einem Umkreis von ein paar Metern.
Seja legte Lukas die Arme um den Hals und vergrub das Gesicht in der struppigen Mähne. Eigentlich wusste sie wenig über Pferde. Wie viele andere Mädchen war sie in die Reitschule gegangen, aber nachdem ihre Mutter ihren Job als Sprachlehrerin hatte aufgeben müssen, war die finanzielle Lage der Familie ständig angespannt. Also gab sie das Reiten auf und hielt sich an die örtliche Klavierschule und den Jugendchor. Das Schreiben und das Jugendzentrum waren ja gratis.
Sie litt nicht allzu sehr darunter, nicht mehr zu den Pferden zu dürfen. Als sie klein war, machten ihr die großen Tiere eher Angst, ebenso wie die spitzen Ellbogen der Pferdemädchen.
Trotzdem hatte sie sich Lukas gekauft, der sie ihre gesamten Ersparnisse gekostet hatte und jeden Monat einen Teil ihrer Studienfördergelder. Ganz zu schweigen von der Zeit, die er in Anspruch nahm. Trotzdem hatte sie ihre Entscheidung nie bereut.
An dem Tag, als der alte Herr Gren sie über das Grundstück mit der alten Scheune in Stenaredsbacken führte, hatte sie eine Vision von ihrem Pferd gehabt. Es stand an der Stelle, an der die Lichtung an den Wald grenzte, es graste und trank Wasser aus einer alten Badewanne. Genau dieses Fleckchen hatte sie eingezäunt und sogar die Badewanne stand dort, jetzt, im Winter, überzog eine mit Tannennadeln bestreute Eisschicht die Wasseroberfläche.
Wenn sie die Wange an Lukas’ warmen Hals legte, konnte sie Martin zumindest eine Weile vergessen, aber heute war es besonders schlimm. Vor ihrem inneren Auge spielte sich immer wieder die gleiche Szene ab. Wie sie in der Küche in ihrer vollgestopften Einzimmer-Wohnung am Mariaplan saßen und die kleine Anzeige in der »Göteborgs-Posten« entdeckten: »Altmodisches Häuschen schnellstmöglich und günstig zu verkaufen.« Sie durften sofort vorbeikommen. Weil sie kein Auto hatten, nahmen sie den Bus und erreichten die Endstation erst in der Abenddämmerung. Von dort mussten sie zu Fuß bis zur Lichtung gehen, bergauf und durch den Wald.
Oben am Kiesweg wartete ein Behindertentaxi, aus dem ein alter Mann mit zittrigen Beinen stieg. Der alte Gren. Vor einem halben Jahr habe er einen Schlaganfall erlitten und wahrscheinlich würde er das Pflegeheim unten in Olofstorp nie wieder verlassen. Da habe er sich schließlich zum Verkauf entschlossen.
Um zu dem Häuschen zu gelangen, mussten sie ein morastiges Gebiet durchqueren, aus dem Nebelschwaden aufstiegen. Es gab weder Toilette noch Dusche im Haus – das Plumpsklo befand sich im Vorratsschuppen, und auf der Rückseite hatte der Alte eine Außenküche und eine Dusche mit Warmwasser angebaut. Sie bekamen das Anwesen für einen Spottpreis.
Unzählige Male hatte sie schon gegrübelt, was eigentlich passiert war. Wann die Dinge schiefzulaufen begannen. Ob sie nicht irgendwelche Anzeichen hätte bemerken müssen, dass Martin sich hier nicht zu Hause fühlte.
Er übernachtete immer öfter in der Stadtwohnung, er musste Überstunden machen, einen Kumpel treffen oder hatte einfach Lust, ein heißes Bad zu nehmen, statt sich im Licht der Außenbeleuchtung hinterm Haus zu duschen. Immer öfter war sie allein zu Hause, nur mit Lukas und der Katze, die sie beim Einkauf auf einem Ökobauernhof in Stannum geschenkt bekommen hatte. Jedes Mal, wenn Martin das Häuschen verließ, nahm er ein paar seiner Sachen mit. Und eines Morgens fuhr er in die Stadt und kam nicht mehr zurück.
Am Telefon erklärte er ihr, dass ihm die Stille auf die Nerven gehe. Die Ruhe vermittle
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