Wintermord
obligatorischer Spezialunterricht, drei Tage unbezahlter Scheißjob. Dass das nichts war, hatte My schon nach einer Woche kapiert, nicht ohne eine gewisse elitäre Überheblichkeit gegenüber ihren Klassenkameraden zu empfinden, Jungs mit flaumigen Oberlippenbärtchen, die Autos knackten und ihren eigenen Nachnamen nicht buchstabieren konnten.
Die Wurzeln ihrer Abneigung fürs Gymnasium lagen, ebenso wie ihre Verachtung für die Sonderklassenschüler, in ihrer Weigerung, sich anzupassen. Die Schule war für sie die deutlichste Form der Unterdrückung.
Dass Lernen etwas Lustvolles sein konnte, hatte My bis dahin nie erlebt, und die Erkenntnis traf sie mit voller Wucht. Sie wurde für ihre schriftlichen Übungen in Schwedisch gelobt, vertiefte sich in die Literaturwissenschaft und in naturwissenschaftliche Fächer. Sie blätterte in den Vorlesungsverzeichnissen der Universitäten und sprang von einem Beruf zum nächsten: Architektin, Biologin, Psychologin, Gymnasiallehrerin? Das Allmachtgefühl kannte keine Grenzen.
Der soziale Teil ihrer Eingewöhnung war für sie wesentlich schwerer, aber irgendwann fiel auch die Maske des aufsässigen Teenagers der letzten Jahre von ihr ab.
Die Schüler stammten aus den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten; viele wollten einfach eine Pause, zur Ruhe kommen oder sich selbst finden. Manche wollten andere Menschen kennenlernen und aus ihrem isolierten Dasein ausbrechen. Mit ihren siebzehn Jahren war My die Jüngste, und sie fühlte sich einerseits unwissend, andererseits voller Erfahrungen, die sie mit niemandem hier teilen konnte.
Sie hielt sich abseits, lernte in ihrem Zimmer oder in der Bibliothek, machte Spaziergänge am See und war bald als »die Einsame« verschrien. Sie war eigentlich gern allein, aber sie schämte sich, wenn einer aus ihrer Klasse abends den Kopf in die Bibliothek steckte und sie über ihren Büchern entdeckte: Hockst du hier ganz allein? Es hörte sich immer so an, als ob etwas mit ihr nicht stimmte oder als müsste man Mitleid mit ihr haben.
Caroline machte sie ein klein wenig interessanter, zumindest bildete sie sich ein, dass den anderen auffiel, wie gern sie mit ihr zusammen war. Die meisten Schüler schienen ihre Gesellschaft als Privileg zu empfinden, nur ein paar flüsterten sich zu, dass sie »so komische Augen« hatte.
My reagierte mit primitiver Eifersucht, wenn sie Caroline im Gespräch mit anderen sah. Vor allem, wenn es eines der selbstbewussten Mädchen war und sie zusammen lachten. Dann fühlte sie sich unterlegen, wie die Siebzehnjährige, die sie eben war.
Wenn Caroline sich mit den Leuten abgibt, schrieb My in ihr Buch, dann fühlen sie sich auserwählt. Und diejenigen, denen sie die kalte Schulter zeigt, erfrieren .
14
2006
Melkersson hatte ihr einmal erzählt, dass man den See früher über breite Wege erreichen konnte, wo jetzt nur noch Kahlschlag war. In jungen Jahren hatte er eine Verlobte in Lerum und ging immer zu Fuß durch die Wälder zu ihr.
Seitdem hatten die schweren Maschinen der Waldarbeiter den Boden aufgerissen, und die Wege waren nicht mehr zu erkennen.
Der See lag auf einer Höhe mit dem Stenaredsberg. Mittlerweile ein beliebtes Ausflugsziel für Familien mit Kindern, wobei sie allerdings einen Umweg nehmen mussten: erst den Berg hinunter, durch die Gemeinde, und dann den Stora Älsjöväg wieder hinauf bis zum neu angelegten Parkplatz. Von dort spazierte man zum öffentlichen Badeplatz, der ein Sprungbrett zu bieten hatte, ein Trampolin und ein kleines Häuschen mit Umkleidekabinen.
Martin und sie hatten sich im Urlaub auf dem Sandstrand von Olofstorpssidan gesonnt. Wenn man über den See blickte, erkannte man die flachen Felsen, die auf der Seite mit dem Stenaredsberg ins Wasser tauchten: groß und glatt, mit einer ovalen Einbuchtung, ideal für zwei Sonnenbadende. Mit Leichtigkeit hätten sie über den See schwimmen und sich zum Trocknen auf diese Steine legen können.
Das Wasser war dort ziemlich tief. Man ahnte den Grund nur noch.
»Wir könnten doch von dort nach Hause gehen«, hatte Seja einmal vorgeschlagen. »Das müsste ziemlich nah sein.«
Aber dann sah sie selbst ein, wie dumm es wäre, Kleider und Auto auf der anderen Seite des Sees zu lassen, um sich im Badeanzug nach Hause durchzuschlagen. Außerdem war Martin so furchtbar bequem. Sie konnte ihn auch nie dazu bewegen, mal den Eimer mit roter Farbe in die Hand zu nehmen und den Weg zu markieren, obwohl sie ihn immer wieder darum bat.
Weitere Kostenlose Bücher