Wintermord
Schließlich, als er abgehauen war, nahm sie den Eimer selbst in die Hand.
Sie brauchte einen Tag, um den Weg zum See auszukundschaften. Als sie ankam, war sie völlig zerkratzt und verschwitzt. Der September war schon fortgeschritten und eigentlich hatte sie nicht baden wollen, aber dann sprang sie doch ins eiskalte Wasser.
Zum ersten Mal seit langer Zeit spürte sie etwas wie Freude in ihrer Brust. Man muss das Alleinsein wagen, dachte sie. Nachdem sie den Weg mit roten Markierungen gekennzeichnet und von umgestürzten Baumstämmen befreit hatte, ritt sie fast jeden Tag an den See. Die Ausflüge wurden ihr kleines Geheimnis, symbolisierten ihre neu entdeckte, wenn auch noch recht wacklige innere Stärke.
Bis jetzt hatte sie kaum darüber nachzudenken gewagt, warum sie auf einmal das Gefühl hatte, zu Hause angekommen zu sein, obwohl sie doch ihr Leben lang in der Stadt gewohnt hatte. Sie war ... wenn nicht glücklich, so doch bereit zum Glücklichsein.
Sie war nur ein einziges Mal, als Fünf- oder Sechsjährige, in dem kleinen Dorf in Nordfinnland gewesen, in dem ihre Mutter geboren war. Es war Spätsommer, als die Familie in den klapprigen Saab stieg, um Göteborg zu verlassen. Seja trug leichte Sachen. Als sie von Bodenfrost und eiskalter Luft empfangen wurden, musste sie sich Kleider von Großmutter Marja-Leena leihen. Das war das erste und letzte Mal, dass sie ihre Großmutter traf. Der Großvater war ein halbes Jahr zuvor gestorben. Am Abend sprach ihre Mutter mit gedämpfter Stimme darüber, wie Großmutter nun zurechtkommen würde. Allein mit dem Hof und der schweren Arbeit. Und dem Wald, den eines Tages die einzige Tochter erben würde. Später sollte Seja begreifen, dass ihre Mutter gern zurück nach Finnland gezogen wäre, ihr Vater sich aber dagegen sträubte. Nun war auch Marja-Leena tot, und Sejas Mutter verpachtete das Grundstück. Das Wohnhaus verfiel, die Gegend war auf dem Immobilienmarkt so gut wie wertlos. Seja konnte sich kaum noch an den Hof und ihre Großmutter erinnern. Eine sehnige Frau mit Schürze und einem Dutt im Nacken. Ein graues Haus und eine große Scheune. Schnee im September. Und der Wald.
An etwas anderes konnte sie sich sehr wohl erinnern. Heute spürte sie einen Kloß im Hals, wenn sie daran zurückdachte, wie sich ihre Mutter verändert hatte, sobald sie den Fuß auf finnischen Boden setzte. Als ob die Kargheit der Erde durch ihre Fußsohlen drang und sich in ihrem Körper festsetzte.
Seja erinnerte sich an die Ehrfurcht, mit der sie ihre Mutter betrachtete, wie sie mit geübten Handgriffen die notwendigen Arbeiten auf dem Hof erledigte. Wie sie sich auf den Traktor schwang oder die Tiere vor sich hertrieb. Wie ein weiblicher Cowboy, ganz in ihrem Element.
Sejas Mutter lebte damals schon seit dreißig Jahren in Schweden, aber sie sprach noch immer Schwedisch, als gelte es, Hindernisse zu überwinden. Man sah ihr förmlich an, dass die Worte oft nicht so herauskamen wie geplant, und dass sie stets darauf gefasst war, missverstanden zu werden.
Als Heranwachsende war Seja nur noch einmal nach Finnland gefahren. Eine Studienfahrt mit ihrer Gymnasialklasse nach Helsingfors. Wenn Jarmo nicht in der Nähe war, der Einzige, der besser Finnisch sprach als sie, musste sie den anderen die Schilder und die McDonald’s-Speisekarte übersetzen. Seja lachte, als Lukas beim Anblick des Stalles laut wieherte. Sie ließ die Zügel locker und zog die Stiefel aus den Steigbügeln. Für einen Moment war ihr leicht ums Herz.
Da entdeckte sie das nagelneue, leuchtend rote Ziegeldach. Sie wandte den Blick ab, als könnte sie durch bloßes Leugnen ihr Unbehagen verschwinden lassen und indem sie Melkersson verdrängte so tun, als wäre sie gar nicht in die Ereignisse verwickelt worden.
Obwohl sie Åke nichts vorwerfen konnte, als dass er sie geweckt und zu Thomas Edells Kfz-Werkstatt mitgenommen hatte.
Und da war er wieder, dieser Name. Er weckte in ihr ein Gefühl der Hilflosigkeit und der Schuld, die sie sich nie richtig eingestanden hatte, die sie mit der Erklärung abgetan hatte, zu jung und zu unerfahren gewesen zu sein. Außerdem war sie sich ihrer Sache nicht ganz sicher. Sie hatte ja nicht mal das Gesicht wiedererkannt.
Nur eines stand fest: Das alles lag schon viele Jahre zurück. Viele Jahre, in denen sie das Vergangene hatte ruhen lassen, in denen sie umgedacht, beschönigt und unbequemen Gedanken getrotzt hatte.
15
Tell goss sich eine zweite Tasse Kaffee aus der Thermoskanne
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